13.11.2017 Zivilrecht

OGH: § 231 ABGB – (fiktive) Selbsterhaltungsfähigkeit iZm psychischer Erkrankung und krankheitsbedingter Therapieresistenz

Das Rekursgericht wies zutreffend darauf hin, dass der Umstand allein, dass der Antragsteller intellektuell verstehe, dass er eine Behandlung durchführen müsse, für sich allein noch nichts daran ändere, dass die Therapieresistenz ein Symptom der Krankheit sei; auf die im Revisionsrekurs vermisste Feststellung, der Antragsteller sei jedenfalls so weit einsichts- und urteilsfähig, dass er Entscheidungen über medizinische Behandlungen selbst treffen könne, kommt es nicht an; eine allenfalls ausreichend gegebene Einsichts- und Urteilsfähigkeit allein vermag die für notwendige Therapie erforderliche grundsätzliche Entschlusskraft und das nötige Durchhaltungsvermögen, das dem Antragsteller als Ausfluss seiner Krankheit fehlt, nach der vertretbaren Auffassung des Rekursgerichts nicht zu ersetzen; entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs verweigert der Antragsteller die Behandlung nicht nur, weil er Mühe und Anstrengungen vermeidet; diese Verweigerung ist vielmehr ein Symptom seiner Erkrankung und ihm tatsächlich nicht vorwerfbar; dem Antragsteller mangelt es vielmehr nach den Feststellungen an entsprechender Krankheitseinsicht, die wichtigste Voraussetzung für eine Therapie ist


Schlagworte: Familienrecht, Kindesunterhalt, (fiktive) Selbsterhaltungsfähigkeit, psychische Erkrankung, krankheitsbedingte Therapieresistenz, Verschulden, Rechtsmissbrauch, Schadensminderungspflicht
Gesetze:

 

§ 231 ABGB, § 1304 ABGB

 

GZ 5 Ob 85/17m, 26.09.2017

 

OGH: Die Frage der (fiktiven) Selbsterhaltungsfähigkeit haben die Vorinstanzen iSd stRsp gelöst. Selbsterhaltungsfähig ist ein Kind dann, wenn es die zur Deckung seines Unterhalts erforderlichen Mittel selbst erwirbt oder aufgrund zumutbarer Beschäftigung zu erwerben imstande ist. Bezieht ein Kind eigene Einkünfte, die zur Befriedigung seiner konkreten Lebensbedürfnisse hinreichen, fehlt es – unabhängig von der Leistungsfähigkeit des Unterhaltspflichtigen – an einem durch Unterhaltsleistungen sicherzustellenden Bedarf. Gleiches gilt auch dann, wenn das Kind tatsächlich keine eigenen Einkünfte bezieht, dazu aber unter Einsatz seine Fähigkeiten und Kräfte in der Lage wäre und daher als selbsterhaltungsfähig anzusehen ist (§ 231 Abs 3 ABGB). Fiktive Selbsterhaltungsfähigkeit liegt vor, wenn das unterhaltsberechtigte Kind nach Ende des Pflichtschulalters weder eine weitere zielstrebige Schulausbildung oder sonstige Berufsausbildung absolviert, noch eine mögliche Erwerbstätigkeit ausübt, also arbeits- und ausbildungsunwillig ist, ohne dass ihm krankheits- oder entwicklungsbedingte Fähigkeiten fehlten, für sich selbst aufzukommen. Voraussetzung der fiktiven Selbsterhaltungsfähigkeit ist, dass das Kind am Scheitern einer angemessenen Ausbildung oder Berufsausübung ein Verschulden trifft.

 

Ist die Selbsterhaltungsfähigkeit wegen einer psychischen Erkrankung des Kindes nicht eingetreten, wäre sein Unterhaltsanspruch nur bei Rechtsmissbrauch zu verneinen. Ob ein derartiger Rechtsmissbrauch anzunehmen ist, hängt in aller Regel von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.

 

Ein Verschulden des Antragstellers haben die Vorinstanzen hier ebenso vertretbar verneint wie einen Rechtsmissbrauch des Antragstellers.

 

Das Rekursgericht wies zutreffend darauf hin, dass der Umstand allein, dass der Antragsteller intellektuell verstehe, dass er eine Behandlung durchführen müsse, für sich allein noch nichts daran ändere, dass die Therapieresistenz ein Symptom der Krankheit sei. Auf die im Revisionsrekurs vermisste Feststellung, der Antragsteller sei jedenfalls so weit einsichts- und urteilsfähig, dass er Entscheidungen über medizinische Behandlungen selbst treffen könne, kommt es nicht an. Eine allenfalls ausreichend gegebene Einsichts- und Urteilsfähigkeit allein vermag die für notwendige Therapie erforderliche grundsätzliche Entschlusskraft und das nötige Durchhaltungsvermögen, das dem Antragsteller als Ausfluss seiner Krankheit fehlt, nach der vertretbaren Auffassung des Rekursgerichts nicht zu ersetzen. Entgegen den Ausführungen im Revisionsrekurs verweigert der Antragsteller die Behandlung nicht nur, weil er Mühe und Anstrengungen vermeidet; diese Verweigerung ist vielmehr ein Symptom seiner Erkrankung und ihm tatsächlich nicht vorwerfbar. Dem Antragsteller mangelt es vielmehr nach den Feststellungen an entsprechender Krankheitseinsicht, die wichtigste Voraussetzung für eine Therapie ist.

 

Für eine Anwendung der aus dem Schadenersatzrecht stammenden Schadensminderungspflicht nach § 1304 ABGB auf Unterhaltsansprüche eines Kindes besteht keine gesetzliche Grundlage, mangels analogiefähigen Sachverhalts besteht auch kein Anlass für eine analoge Anwendung. Die Verneinung eines Unterhaltsanspruchs kommt erst bei Rechtsmissbrauch, also bei vorsätzlichem Verhalten, das die durch die Unterhaltsleistungen abzudeckenden Bedürfnisse erst schafft oder das Zulangen der vor dem Akutwerden der geltend gemachten Fremdleistungspflicht auszuschöpfenden Mittel beeinträchtigt, in Betracht. Diese stRsp zeigt schon, dass eine bloße Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten – etwa bei der Aufnahme eines Beschäftigungsverhältnisses oder Verweigerung einer an sich zumutbaren Therapie – noch nicht zum (teilweisen) Verlust eines Unterhaltsanspruchs des Kindes führen kann.

 

Da der Antragsteller objektiv nicht selbsterhaltungsfähig ist, was im Revisionsrekursverfahren nicht mehr strittig war, und ihm die Therapieunwilligkeit nach der vertretbaren Auffassung der Vorinstanzen nicht vorzuwerfen ist, war dem Revisionsrekurs des Vaters der Erfolg zu versagen.