OGH: Vorläufige Maßnahme nach § 107 Abs 2 AußStrG und Bindungswirkung
Mit dieser Regelung sollten nach dem Willen des Gesetzgebers die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen in dem Sinn reduziert werden, dass diese nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen; im außerstreitigen Verfahren ergangene Entscheidungen können nur bei einer Änderung der Verhältnisse abgeändert werden; entscheidend ist, ob gegenüber jenem Sachverhalt, der für die frühere Entscheidung maßgeblich war, eine Änderung eingetreten ist oder ob Tatsachen vorliegen, die zur Zeit der früheren Entscheidung zwar bereits eingetreten, dem Gericht aber erst nachträglich bekannt geworden sind; die Voraussetzungen für eine materielle Bindungswirkung liegen ua auch dann vor, wenn das Begehren das begriffliche Gegenteil des bereits rechtskräftig entschiedenen Anspruchs ist; diese Grundsätze für die Bindungswirkung gelten grundsätzlich auch für vorläufige Maßnahmen nach § 107 Abs 2 AußStrG im Rahmen des Provisorialverfahrens; durch die Erweiterung der Möglichkeit der Erlassung solcher Maßnahmen hat sich an dieser Bindungswirkung nichts geändert; keine Bindung besteht dagegen für die – einer vorläufigen Regelung nachfolgende – abschließende Regelung des Kontaktrechts
§ 107 AußStrG, § 138 ABGB, § 43 AußStrG, § 411 ZPO
GZ 9 Ob 61/16k, 24.03.2017
OGH: Die Frage der Kontaktrechtsregelung und der Erlassung einer vorläufigen Maßnahme hängt von den Umständen des Einzelfalls ab, der keine erhebliche Bedeutung iSd § 62 Abs 1 AußStrG zuerkannt werden kann, es sei denn, dass bei dieser Entscheidung das Wohl der Minderjährigen nicht ausreichend bedacht wurde. Dasselbe hat für die Abweisung eines Antrags auf Erlassung von vorläufigen Maßnahmen zu gelten.
§ 107 Abs 2 AußStrG (idF KindNamRÄG 2013, BGBl I 2013/15) sieht vor, dass das Gericht die Obsorge und die Ausübung des Rechts auf persönliche Kontakte „nach Maßgabe des Kindeswohls“ auch vorläufig einzuräumen oder zu entziehen hat. Mit dieser Regelung sollten nach dem Willen des Gesetzgebers die Voraussetzungen für die Erlassung vorläufiger Maßnahmen in dem Sinn reduziert werden, dass diese nicht mehr erst bei akuter Gefährdung des Kindeswohls, sondern bereits zu dessen Förderung erfolgen dürfen.
Die Entscheidung des Erstgerichts, das Kontaktrecht vorläufig auszusetzen, ist unbekämpft in Rechtskraft erwachsen und daher in diesem Stadium des Verfahrens nicht überprüfbar. Unmittelbar darauf stellte der Vater den Antrag, ihm entgegen dieser Entscheidung ein vorläufiges Kontaktrecht einzuräumen, ohne darzulegen, inwieweit eine derartige vorläufige Regelung entgegen den in der Vorentscheidung enthaltenen Feststellungen, derzeit geeignet sein könnte, das Kindeswohl zu fördern.
Nach stRsp sind auch im außerstreitigen Verfahren ergangene Entscheidungen der materiellen und formellen Rechtskraft fähig und binden die Betroffenen und das Gericht (§ 43 Abs 1 AußStrG). Die materielle Rechtskraft einer Entscheidung ist auch im außerstreitigen Verfahren in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu beachten. Nur gegenüber nachträglichen Tatbestandsänderungen hält die materielle Rechtskraft nicht stand. Im außerstreitigen Verfahren ergangene Entscheidungen können daher nur bei einer Änderung der Verhältnisse abgeändert werden. Entscheidend ist, ob gegenüber jenem Sachverhalt, der für die frühere Entscheidung maßgeblich war, eine Änderung eingetreten ist oder ob Tatsachen vorliegen, die zur Zeit der früheren Entscheidung zwar bereits eingetreten, dem Gericht aber erst nachträglich bekannt geworden sind. Die Voraussetzungen für eine materielle Bindungswirkung liegen ua auch dann vor, wenn das Begehren das begriffliche Gegenteil des bereits rechtskräftig entschiedenen Anspruchs ist.
Diese Grundsätze für die Bindungswirkung gelten grundsätzlich auch für vorläufige Maßnahmen nach § 107 Abs 2 AußStrG im Rahmen des Provisorialverfahrens. Durch die Erweiterung der Möglichkeit der Erlassung solcher Maßnahmen hat sich an dieser Bindungswirkung nichts geändert. Keine Bindung besteht dagegen für die – einer vorläufigen Regelung nachfolgende – abschließende Regelung des Kontaktrechts.
Im vorliegenden Fall macht der Vater derartige nachträgliche Änderungen gegenüber dem der Vorentscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt nicht geltend. Soweit sich der Revisionsrekurs gegen die Beachtlichkeit des Willens der Minderjährigen wendet und ihre Einsicht- und Urteilsfähigkeit bestreitet, wird tatsächlich die materielle Unrichtigkeit der (rechtskräftigen) Vorentscheidung geltend gemacht.
Die im außerstreitigen Verfahren geltende Verpflichtung zur amtswegigen Wahrheitsforschung findet eine natürliche Grenze, sobald Anhaltspunkte für eine weitere Aufklärungsbedürftigkeit fehlen. Bereits der Antrag des Vaters auf Einräumung des vorläufigen Kontaktrechts enthielt im Wesentlichen nur Rechtsausführungen und keinen Hinweis auf eine Änderung der Verhältnisse. Auch der Revisionsrekurs rügt nur die Nichtaufnahme von Beweisen ohne dass sich daraus ableiten lässt, welche Tatsachen durch die Aufnahme dieser Beweise hätten festgestellt werden können. Soweit auf hypothetische Entwicklungen verwiesen wird, die sich bei Setzen anderer Maßnahmen in der Vergangenheit hätten ergeben können, lässt sich darauf für die derzeitige Situation des Kindes und die zu seinem Wohl zu treffenden Maßnahmen nichts gewinnen.
Auch aus dem übrigen Akteninhalt ergibt sich kein Hinweis auf eine solche Änderung, im Gegenteil hat die Minderjährige in ihrem vom Kinderbeistand vorgelegten Schreiben ihre massive Ablehnung neuerlich verdeutlicht.
War die inhaltliche Richtigkeit der rechtlichen Beurteilung der Vorentscheidung nicht mehr zu überprüfen, kommt der im Revisionsrekurs erhobenen Verfahrensrüge, das Erstgericht habe nur ein „Aktenverfahren“ ohne (erneute) mündliche Anhörung der Minderjährigen durchgeführt und kein psychologisches Gutachten eingeholt, von vornherein keine Berechtigung zu.
Da es sich sowohl bei der Aussetzung des Kontaktrechts als auch beim Antrag des Vaters um eine vorläufige Regelung nach § 107 Abs 2 AußStrG iSd Kindeswohls handelt, ist damit weder über allenfalls zu treffende Maßnahmen iSd § 107 Abs 3 AußStrG noch über das Kontaktrecht als solches abschließend entschieden.