OGH: Gemeinsame Obsorge und Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit
Ob eine ausreichende Kommunikationsbasis besteht, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden; inwieweit nach Art und Umfang der Kommunikation eine ausreichende Gesprächsbasis für eine gemeinsame Entscheidungsfindung anzunehmen ist, ist nicht verallgemeinerungsfähig; es kommt nicht auf die Art der Nachrichtenübermittlung an, sondern auf die jeweilige Bereitschaft zum Informationsaustausch; es ist zu klären, ob Aufträge an die Eltern nach § 107 Abs 3 AußStrG zweckmäßig sind; ebenso wird das wechselseitige Bemühen der Eltern, auf den jeweiligen anderen Elternteil zuzugehen und dessen Beiträge bei der Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung zuzulassen, festzustellen und allenfalls auch zu klären sein, welcher Beitrag dem jeweiligen Elternteil am Scheitern der Herstellung der nötigen Gesprächsbasis zukommt
§ 180 ABGB, § 181 ABGB, § 138 ABGB, § 107 AußStrG
GZ 9 Ob 51/16i, 24.03.2017
OGH: Im Gegensatz zur Rechtslage vor dem KindNamRÄG 2013 soll nunmehr die Obsorge beider Elternteile die Regel sein. Nach der Rsp setzt eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern aber ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit sowie an einer entsprechenden Bereitschaft der Eltern dazu voraus. Um Entscheidungen möglichst übereinstimmend iSd Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen.
Zu prüfen ist, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist oder in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet oder eine solche hergestellt werden kann. Richtig hat das Rekursgericht darauf verwiesen, dass auch zu beachten ist, dass va ein die Alleinobsorge anstrebender Elternteil die Kooperation und Kommunikation nicht schuldhaft verweigern oder erschweren darf, weil er es ansonsten in der Hand hätte, die Belassung bzw Anordnung der beiderseitigen Obsorge einseitig zu verhindern.
Ob eine ausreichende Kommunikationsbasis besteht, kann nur nach den Umständen des Einzelfalls beurteilt werden. Inwieweit nach Art und Umfang der Kommunikation eine ausreichende Gesprächsbasis für eine gemeinsame Entscheidungsfindung anzunehmen ist, ist nicht verallgemeinerungsfähig. Richtig ist, dass der OGH in einzelnen Entscheidungen die Beteiligung an der Betreuung des Kindes über Skype-Telefonie oder eine per SMS und E-Mail geführte Kommunikation nicht als ausreichende Grundlage für eine gemeinsame Obsorge angesehen hat. Demgegenüber wurde zu 10 Ob 22/16g bei Vorliegen einer sachlichen Kommunikationsebene per E-Mail zwischen den Eltern, mit umfangreichem E-Mail-Verkehr, Kommunikation per SMS und Bestehen der Kooperationsbereitschaft die gemeinsame Obsorge bejaht. Wie in dieser Entscheidung richtig betont wurde, kommt es nicht auf die Art der Nachrichtenmitteilung an, sondern auf die jeweilige Bereitschaft zum Informationsaustausch.
Im vorliegenden Fall hat das Erstgericht zwar festgestellt, dass zwischen den Eltern keine ausreichende Gesprächsbasis besteht, um Entscheidungen zum Wohl des Kindes zu treffen. Dabei handelt es sich aber lediglich um eine Schlussfolgerung, für die in den Feststellungen keine ausreichende Grundlage besteht. Auch in der Beweiswürdigung wird nur auf die gegenseitigen Vorwürfe im Verfahren verwiesen sowie die nicht erzielbare Einigung in der Schulfrage.
Das Rekursgericht wiederum verweist nur auf den in einem Schriftsatz erwähnten E-Mail-Verkehr zwischen den Eltern, ohne dass auf Basis dieses Schriftsatzes eine nachvollziehbare Beurteilung der Kooperationsbereitschaft der Eltern möglich ist. Tatsächlich fehlt eine ausreichende Tatsachengrundlage, um beurteilen zu können, ob und gegebenenfalls in welcher Form zwischen den Eltern eine Kommunikation zu Erziehungs- und Betreuungsfragen stattfindet, ob die Bereitschaft zu solchen Gesprächen besteht und ob eine ausreichende Kooperations- und Kommunikationsbasis allenfalls unter Heranziehung der Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG hergestellt werden kann.
Aufgrund dieses relevanten sekundären Feststellungsmangels sind die Entscheidungen der Vorinstanzen aufzuheben. Im fortgesetzten Verfahren wird zu klären sein, inwieweit derzeit eine Kommunikationsfähigkeit der Eltern besteht bzw sind die Möglichkeiten zur Herstellung der für die beiderseitige Obsorge erforderlichen Gesprächsbasis zu prüfen. Dabei wird auch zu klären sein, ob Aufträge an die Eltern nach § 107 Abs 3 AußStrG zweckmäßig sind. Ebenso wird das wechselseitige Bemühen der Eltern, auf den jeweiligen anderen Elternteil zuzugehen und dessen Beiträge bei der Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung zuzulassen, festzustellen und allenfalls auch zu klären sein, welcher Beitrag dem jeweiligen Elternteil am Scheitern der Herstellung der nötigen Gesprächsbasis zukommt.