OGH: Art 15 Brüssel IIa-VO (Verweisung an ein Gericht, das den Fall besser beurteilen kann)
Art 15 Brüssel IIa-VO ist als Ausnahmeregelung restriktiv anzuwenden
Art 15 Brüssel IIa-VO
GZ 5 Ob 80/16z, 25.08.2016
OGH: Die Mutter beantragt in ihrem Revisionsrekurs eine Vorgangsweise nach Art 15 Brüssel IIa-VO. Diese Bestimmung regelt in Ausnahmefällen, soferne dies dem Wohl des Kindes entspricht, die Übertragung der Rechtssache vom zuständigen Gericht eines Staats an ein Gericht eines anderen Mitgliedstaats, das den Fall aufgrund der besonderen Bindung des Kindes zu diesem Staat besser beurteilen kann. Zu jenen Fällen, in denen nach Art 15 Abs 3 Brüssel IIa-VO eine besondere Bindung des Kindes angenommen wird, zählen ua
a) die Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts in den Mitgliedstaat,
b) der ursprüngliche gewöhnliche Aufenthalt in diesem Mitgliedstaat
c) die Staatsangehörigkeit dieses Mitgliedstaats oder
d) der gewöhnliche Aufenthalt eines Trägers der elterlichen Verantwortung in diesem Mitgliedstaat.
Die Kinder sind britische Staatsangehörige und lebten vor der Übersiedlung nach Österreich im August 2014 in Großbritannien. Entscheidende Bedeutung für eine Verweisung der Rechtssache an ein britisches Gericht nach dem als Ausnahmeregelung restriktiv anzuwendenden Art 15 wird im vorliegenden Fall aber der gewöhnliche Aufenthalt der Kinder sowie ihrer Eltern haben. Die Sachnähe eines Gerichts dieses Mitgliedstaats, dessen Jugendschutzbehörden bereits mit den Angelegenheiten der Familie befasst gewesen waren, könnte dem Wohl der Kinder dienen. Britische Behörden oder Gerichte könnten die aktuellen Lebensumstände der Familie, insbesondere die Regelung von persönlichen Kontakten zur Mutter ohne Beschränkung auf die Kommunikation via Internet leichter beurteilen.
Der Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ ist unabhängig vom nationalen Recht autonom auszulegen. Nach der hA kommt es für die Ermittlung des gewöhnlichen Aufenthalts nicht auf die Absicht an, dauernd an einem Ort verbleiben zu wollen, sondern darauf, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehungen macht. Maßgeblich sind die dauerhaften Beziehungen einer Person zu ihrem Aufenthaltsort, sodass sich der Aufenthalt ausschließlich nach tatsächlichen Umständen bestimmt. Die Dauer des Aufenthalts ist für sich allein kein ausschlaggebender Moment. Dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt können auch nach kurzer Zeit begründet werden. Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes drückt sich in seiner sozialen und familiären Integration aus.
Die Vorgeschichte der Familie, der Wunsch der Kinder nach einer Rückkehr mit dem Vater nach Großbritannien sowie die Weigerung der 2005 geborenen mj D*****, sich in Österreich zu integrieren, legen iVm einem nunmehr bereits mehrmonatigen Aufenthalt in Großbritannien eine bereits eingetretene soziale und familiäre Integration im Heimatstaat nahe. Dies gilt va für den Fall, dass die Kinder mit dem Vater an den früheren Wohnort oder in dessen Nähe zurückgekehrt sind und sie wieder ohne längere Phase einer Eingewöhnung an ihr früheres Leben in Großbritannien anknüpfen konnten, während die Zeit in Wien ein bloßes Intermezzo ohne Integration war. Die Mutter soll nach ihren Behauptungen ebenfalls wieder in Großbritannien leben. Sollte das Erstgericht von einer Verlegung des gewöhnlichen Aufenthalts nach Großbritannien ausgehen, wird es eine Vorgangsweise nach Art 15 Brüssel IIa-VO iSd zu 9 Ob 14/15x dargelegten Kriterien in Betracht zu ziehen haben.