31.05.2016 Zivilrecht

OGH: Unterlassene Beantragung von Sozialleistungen – Anspannungsobliegenheit des unterhaltsberechtigten Kindes?

Dienen leicht in Anspruch zu nehmende öffentlich-rechtliche (Sozial-)Leistungen nicht der Deckung eines bestimmten Sonderbedarfs, sind sie grundsätzlich als Eigeneinkommen zu qualifizieren und bei der Frage nach einer (teilweisen) Selbsterhaltungsfähigkeit zu berücksichtigen; der Bezug solcher Leistungen verhindert daher regelmäßig die Möglichkeit des Unterhaltsgläubigers, den Unterhaltsanspruch insoweit gegenüber dem Unterhaltspflichtigen geltend zu machen; auf eine „Doppelversorgung“ hat der Unterhaltsberechtigte keinen Anspruch; eine solche Doppelversorgung wird im Ergebnis auch ausgeschlossen, wenn Sozialhilfegesetze eine (aufgeschobene) Legalzession der bestehenden gesetzlichen Unterhaltsansprüche anordnen; sieht das jeweilige Sozialhilfegesetz weder eine den Sozialhilfeempfänger treffende Rückzahlungsverpflichtung noch eine (aufgeschobene) Legalzession des Unterhaltsanspruchs vor, kann also die einmal gewährte Sozialhilfe nicht (mehr) „zurückgefordert“ werden, ist sie als anrechenbares Eigeneinkommen des Unterhaltsberechtigten anzusehen; in den übrigen Fällen bleibt der volle Unterhaltsanspruch bestehen, weshalb dann auch eine Abänderung bereits geschaffener Unterhaltstitel nur aus anderen Gründen - nicht aber wegen des Sozialhilfebezugs durch den Unterhaltsberechtigten - in Betracht kommt


Schlagworte: Familienrecht, Kindesunterhalt, unterlassene Beantragung von Sozialhilfe, Anspannungsobliegenheit, Legalzession
Gesetze:

 

§ 231 ABGB

 

GZ 1 Ob 29/16w, 28.04.2016

 

OGH: Wie der OGH in anderem Zusammenhang schon ausgesprochen hat, besteht zwar grundsätzlich keine „Anspannungsobliegenheit“ des an sich nicht selbsterhaltungsfähigen Kindes, sich um Erwerbseinkünfte zu bemühen; Bemühungen um leicht erzielbare Erträgnisse können ihm aber zugemutet werden. Auch ein nach § 231 Abs 1 ABGB unterhaltsberechtigtes Kind, das Anspruch auf öffentlich-rechtliche Leistungen hat, die unterhaltsrechtlich als Eigeneinkommen zu qualifizieren sind, trifft es im Verhältnis zum Unterhaltspflichtigen idR die Obliegenheit, derartige Leistungen zu beantragen und in Anspruch zu nehmen, widrigenfalls es (in Anwendung des „Anspannungsgrundsatzes“) so zu behandeln ist, als würde es die ihm zustehenden und ohne weiteres verfügbaren Leistungen beziehen.

 

Vorweg ist weiters darauf hinzuweisen, dass die Annahmen der Vorinstanzen über das vom Antragsteller im maßgeblichen Zeitraum bezogene Einkommen unklar sind und nicht übereinstimmen. Während das Erstgericht für die Monate Jänner bis März 2014 von einem monatlichen Bezug von 1.847,97 EUR und ab April 2014 von 1.675,53 EUR „zuzüglich der gesetzlichen Sonderzahlungen“ ausgeht, von dem - zutreffenderweise - jeweils das nicht in die Unterhaltsbemessungsgrundlage fallende Pflegegeld (664,30 EUR/Monat) in Abzug zu bringen sei, spricht das Rekursgericht von einem „unbekämpft mit 1.180 EUR monatlich festgestellten Einkommen“. Eine exakte Klarstellung ist aber nicht erforderlich, weil sich auch bei Zugrundelegung des niedrigsten der hier in Betracht kommenden Werte nach der Prozentwertmethode ein Unterhaltsbeitrag ergibt, der den titulierten Betrag von 181,68 EUR monatlich deutlich übersteigt. Der Revisionsrekurswerber behauptet auch gar nicht, dass seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im hier zu untersuchenden Zeitraum nicht hinreichen würde.

 

Zum Verhältnis der einem Unterhaltsberechtigten zukommenden - oder iSd vorstehenden Ausführungen zumindest leicht in Anspruch zu nehmenden - öffentlich-rechtlichen (Sozial-)Leistungen hat bereits das Rekursgericht in seinem Beschluss, mit dem der Revisionsrekurs nachträglich für zulässig erklärt wurde, auf die einschlägige Judikatur des OGH hingewiesen. Dienen derartige Sozialleistungen nicht der Deckung eines bestimmten Sonderbedarfs, sind sie grundsätzlich als Eigeneinkommen zu qualifizieren und bei der Frage nach einer (teilweisen) Selbsterhaltungsfähigkeit zu berücksichtigen. Der Bezug solcher Leistungen verhindert daher regelmäßig die Möglichkeit des Unterhaltsgläubigers, den Unterhaltsanspruch insoweit gegenüber dem Unterhaltspflichtigen geltend zu machen; auf eine „Doppelversorgung“ hat der Unterhaltsberechtigte keinen Anspruch. Eine solche Doppelversorgung wird im Ergebnis auch ausgeschlossen, wenn Sozialhilfegesetze eine (aufgeschobene) Legalzession der bestehenden gesetzlichen Unterhaltsansprüche anordnen. Sieht das jeweilige Sozialhilfegesetz weder eine den Sozialhilfeempfänger treffende Rückzahlungsverpflichtung noch eine (aufgeschobene) Legalzession des Unterhaltsanspruchs vor, kann also die einmal gewährte Sozialhilfe nicht (mehr) „zurückgefordert“ werden, ist sie als anrechenbares Eigeneinkommen des Unterhaltsberechtigten anzusehen. In den übrigen Fällen bleibt der volle Unterhaltsanspruch bestehen, weshalb dann auch eine Abänderung bereits geschaffener Unterhaltstitel nur aus anderen Gründen - nicht aber wegen des Sozialhilfebezugs durch den Unterhaltsberechtigten - in Betracht kommt.

 

Im vorliegenden Fall hat sich der Antragsteller darauf berufen, dass es der Antragsgegner ohne vernünftigen Grund unterlassen habe, Anträge auf Gewährung von Sozialleistungen nach dem StMSG und dem StBHG zu stellen. Im Zusammenhang mit Geldansprüchen nach dem Steiermärkischen Behindertengesetz (StBHG) verweist der Revisionsrekurswerber insbesondere auf die „Hilfe zum Lebensunterhalt“ gem § 9 leg cit und die in § 10 leg cit angeführten Richtsätze. Für den Bezug derartiger Leistungen sind Unterhaltsansprüche gem § 231 ABGB ohne Bedeutung (§ 11 Abs 2 Z 5 leg cit). Das StBHG sieht auch weder einen Regress noch - abgesehen von § 39 Abs 3 für Pensions- und Schadenersatzansprüche - eine Legalzession vor. Da der Antragsgegner in Haushaltsgemeinschaft (mit seiner Mutter) lebt und Familienbeihilfe bezieht, ist der Richtsatz nach § 10 Abs 1 Z 1 lit d StBHG heranzuziehen, der nach § 1 Z 4 der StBHG-RSVO für 2014 384 EUR und für 2015 393 EUR monatlich beträgt. Da diese Beträge jährlich 14x auszuzahlen sind (§ 31 StBHG) könnte der Antragsgegner durchschnittlich (maximal) 448 EUR (2014) bzw 458,50 EUR (2015) pro Monat beziehen.

 

Zum Steiermärkischen Mindestsicherungsgesetz (StMSG) ist vorerst zu bemerken, das Leistungen nach diesem Gesetz gegenüber solchen nach dem StBHG subsidiär sind (§ 5 Abs 1 StBMG), sodass sich die Anspruchsberechtigung nach dem letztgenannten Gesetz entsprechend verringert. Unrichtig ist die Rechtsbehauptung des Revisionsrekurswerbers, dass bei Leistungen nach dem StMSG weder eine Rückersatz- noch eine Legalzessionsregelung vorgesehen sei und somit das Bestehen von Unterhaltsforderungen die Mindestsicherung nicht tangiere.

 

§ 8 StMSG sah in der bis 30. 6. 2014 geltenden Fassung iZm den Anspruchsvoraussetzungen zwar keine „Rechtsverfolgungspflicht“ im Bezug auf Unterhaltsforderungen vor; das Gesetz statuierte aber in § 17 Abs 1 Z 2 ua eine Ersatzpflicht der unterhaltspflichtigen Eltern gegenüber dem Träger der Mindestsicherung, soweit sich der geschuldete - aber nicht bezahlte - Unterhalt mit den erbrachten Leistungen deckt. Angesichts der gesetzlichen Ersatzpflicht kann sich der Antragsteller iSd dargelegten Judikatur somit nicht darauf berufen, seine Unterhaltspflicht sei erloschen, weil sein Sohn entsprechende Leistungen aus der Mindestsicherung beantragen könnte; der Unterhaltspflichtige soll ja von seiner Unterhaltsschuld gerade nicht endgültig entlastet werden.

 

Für die Zeit ab 1. 7. 2014 geht die Forderung nach einer „Anspannung“ des Antragsgegners iSe Antragstellung nach dem StMSG schon deshalb ins Leere, weil § 8 Abs 1 leg cit seither nur nichttitulierte Unterhaltsansprüche von der generellen Rechtsverfolgungspflicht zur Befriedigung des Unterhaltsbedarfs ausnimmt. Dass eine Rechtsverfolgung aussichtslos gewesen wäre, kann angesichts des festgestellten Einkommens des Vaters zweifellos nicht gesagt werden. Im Falle einer Antragstellung wäre dem Sohn daher mit Erfolg entgegengehalten worden, er könne die Mindestsicherung jedenfalls insoweit nicht in Anspruch nehmen, als der titulierte Unterhalt hereingebracht werden kann. Soweit nun der Unterhaltsberechtigte die dem titulierten Betrag entsprechende Mindestsicherung gar nicht erhalten kann, könnte sich auch durch den Bezug darüber hinausgehender Leistungen die Unterhaltspflicht des Antragstellers nicht verringern. Jedenfalls in Höhe titulierter Ansprüche soll die Mindestsicherung den unterhaltspflichtigen Elternteil erkennbar nicht entlasten.

 

Ein rechtlicher Grund für eine Verminderung der titulierten Unterhaltspflicht des Vaters liegt somit nicht vor.