31.05.2016 Zivilrecht

OGH: § 1304 ABGB – Einholung eines Privatgutachtens erst nach erfolglosem Gutachtenserörterungsversuch?

Der geschädigten Prozesspartei ist kein sorgloses Vorgehen in eigenen Angelegenheiten vorzuwerfen, wenn sie erst nach dem erfolglosen Gutachtenserörterungsversuch ein Privatgutachten einholt und dem Prozessgericht vorlegt


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Sachverständiger, Gutachten, Erörterungversuch, Privatgutachten, Mitverschulden
Gesetze:

 

§ 1304 ABGB, § 1299 ABGB

 

GZ 1 Ob 17/16f, 28.04.2016

 

OGH: Auch wenn es grundsätzlich eine Frage des Einzelfalls ist, ob und inwieweit einem Geschädigten wegen Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten ein Mitverschulden iSd § 1304 ABGB vorzuwerfen ist, erscheint dem erkennenden Senat die ein Mitverschulden der Klägerin an den nachteiligen Folgen des Prozessverlusts bejahende Rechtsansicht der Vorinstanzen korrekturbedürftig.

 

Wie sich aus den Tatsachenfeststellungen des Erstgerichts deutlich ergibt, hat die nunmehrige Klägerin stets Zweifel an der Richtigkeit der Darlegungen des Beklagten als Sachverständiger geäußert. Dass sie im Rahmen der Gutachtenserörterung die Frage des „Formats“ der dem Gutachten zugrunde gelegten Dateien in den Mittelpunkt gestellt hat, vermag schon deshalb keine ins Gewicht fallende Sorglosigkeit zu begründen, weil es ja tatsächlich ein maßgeblicher Grund für die Unrichtigkeit des Gutachtens war, dass der Beklagte nur Dateien im PDF-Format heranzog, die einerseits unleserlich und andererseits auch inhaltlich zu wenig aussagekräftig waren. Noch weniger ist der Klägerin vorzuwerfen, das eingeholte Privatgutachten erst nach dem (erfolglosen) Versuch, den Beklagten im Rahmen der Gutachtenserörterung zu einer Revidierung seiner Schlussfolgerungen zu bewegen, vorgelegt zu haben. Solange eine Prozesspartei noch versucht, die primär vorgesehenen verfahrensrechtlichen Mittel zu nutzen und insbesondere über einen Erörterungsantrag die Möglichkeit wahrnimmt, unklare oder fragwürdige Passagen eines Sachverständigengutachtens in Frage zu stellen und auf Klarstellung bzw Präzisierung zu dringen, ist von ihr regelmäßig nicht zu verlangen, gleichzeitig - oder sogar schon vorher - ein ihre Auffassung stützendes Privatgutachten einzuholen, dessen Kosten sie - auch im Falle eines Erfolgs - möglicherweise selbst tragen muss, weil argumentiert werden könnte, sie hätte doch die Unklarheiten durch entsprechende Fragestellung an den Sachverständigen ohne erhebliche zusätzliche Kostenbelastung ausräumen können. Es ist daher kein sorgloses Vorgehen in eigenen Angelegenheiten darin zu erblicken, dass sie erst nach dem erfolglosen Erörterungsversuch ein Privatgutachten eingeholt und dem Prozessgericht vorgelegt hat. Dass Letzteres dieses Privatgutachten nicht zum Anlass dafür genommen hat, die Richtigkeit des Gutachtens des Beklagten in Frage zu stellen, kann nicht der Klägerin vorgeworfen werden. Mit der Rechtsauffassung der Vorinstanzen würden die prozessualen Sorgfaltspflichten der Prozessparteien, die ja nicht primär dazu berufen sind, ein inhaltlich richtiges Sachverständigengutachten herbeizuführen, überspannt werden.

 

Da der Klägerin somit kein im Verhältnis zur Sorglosigkeit des Beklagten, der trotz zahlreicher Hinweise die Unzulänglichkeit der Gutachtensgrundlagen und sein Unvermögen zur Auswertung aussagekräftiger Unterlagen nicht offengelegt, sondern vielmehr auf der Richtigkeit seines Gutachtens beharrt hat, ins Gewicht fallende Nachlässigkeit nicht vorzuwerfen ist, steht ihr der Ersatz des gesamten Kapitalbetrags zu, zu dessen Zahlung sie wegen des fehlerhaften Gutachtens zu Unrecht verurteilt wurde, sodass sich ihr Zuspruch um den vom Erstgericht abgewiesenen Teil an Kapital iHv 12.913,95 EUR erhöht.