OGH: Beiderseitige Obsorge
Es bestehen Meinungsverschiedenheiten in Betreuungsfragen sowie unterschiedliche Bewertungen von adäquaten Maßnahmen im Krankheitsfall und in Bezug auf das Verhalten der Eltern und die Reaktionen des Kindes in einer Übergabesituation; die Einnahme derartiger unterschiedlicher Positionen ist für einen Obsorgestreit allerdings typisch; für die Annahme des Rekursgerichts, dass mit einer für die Ausübung der Obsorge beider Eltern erforderliche Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden könne, fehlt eine ausreichende Tatsachengrundlage
§ 179 ABGB, § 180 ABGB, § 181 ABGB, § 107 AußStrG
GZ 8 Ob 146/15a, 29.03.2016
OGH: Für die Anordnung der beiderseitigen Obsorge ist die Beurteilung maßgebend, ob die Interessen des Kindes auf diese Weise am Besten gewahrt werden können. Nach der neuen Rechtslage nach dem KindNamRÄG 2013 soll die Obsorge beider Elternteile eher der Regelfall sein. Besteht eine normale familiäre Situation zwischen den Eltern und auch zwischen den Eltern und dem Kind, so gelangt dieser Grundsatz zur Anwendung.
Die beiderseitige Obsorge setzt eine Beteiligung beider Eltern an der Betreuung des Kindes voraus. Aus diesem Grund setzt die Teilnahme an den Betreuungsaufgaben einen Mindestkontakt des jeweiligen Elternteils zum Kind voraus. Zudem ist in der Rsp anerkannt, dass eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Eltern ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit sowie an der entsprechenden Bereitschaft der Elternteile voraussetzt. Um Entscheidungen möglichst übereinstimmend iSd Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und Entschlüsse zu fassen. Nach diesen Grundsätzen ist eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob bereits derzeit eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden ist, oder ob in absehbarer Zeit mit einer solchen gerechnet oder eine solche hergestellt werden kann. Zur Herstellung der erforderlichen Gesprächsbasis ist bei begründeter Aussicht auf Erfolg auch auf die nunmehr vom Gesetzgeber zur Verfügung gestellten Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG zurückzugreifen. Zudem ist zu beachten, dass va ein die Alleinobsorge anstrebender Elternteil die Kooperation und Kommunikation nicht schuldhaft verweigern oder erschweren darf, weil er es ansonsten in der Hand hätte, die Belassung bzw Anordnung der beiderseitigen Obsorge einseitig zu verhindern.
Im Anlassfall hat das Erstgericht in seiner Entscheidung über die beiderseitige Obsorge im Wesentlichen nur auf den gesonderten Beschluss über die alleinige Obsorge verwiesen. Der Beschluss des Erstgerichts ist damit nicht ordnungsgemäß begründet.
Inhaltlich stützt das Erstgericht seine Entscheidung auf die ablehnende Haltung des Vaters gegenüber der Mutter und die seiner Ansicht nach daraus resultierende mangelnde Paktfähigkeit des Vaters. Das Rekursgericht übernimmt diese Beurteilung. Zudem verweist es auf die Einschätzung der Mutter, wonach es trotz wiederholter Versuche nicht möglich sei, beim Vater die erforderliche Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft zu wecken.
Diese Beurteilung über die Ablehnung der beiderseitigen Obsorge durch die Vorinstanzen fußt auf keinem tauglichen Tatsachensubstrat.
Die Konfliktpunkte zwischen den Eltern betreffen zunächst das Verhalten von Ma***** und dessen Auswirkungen auf M***** sowie die Einbeziehung der väterlichen Großeltern in die elterlichen Konflikte. Aus den dazu getroffenen Feststellungen ergeben sich keine genügenden Anhaltspunkte für eine mangelnde Kooperationsfähigkeit und Kooperationswilligkeit der Eltern. Auch die Feststellungen zu der nach Meinung der Eltern richtigen Vorgangsweise bei einer Erkrankung des Kindes rechtfertigen keine solche Annahme. Bei der Darlegung des Erstgerichts, der Vater werte die Mutter in deren Rolle ab, woraus es die mangelnde Paktfähigkeit des Vaters ableitet, handelt es sich um eine Schlussfolgerung, der die Feststellungen zu den Einschätzungen der Eltern im Krankheitsfall zugrunde liegen. Dieses Tatsachensubstrat trägt die in Rede stehende Schlussfolgerung nicht. Die weitere Schlussfolgerung des Erstgerichts, die Haltung des Vaters gegenüber der Mutter sei manchmal grenzüberschreitend, findet in dem dazu angeführten Tatsachensubstrat ebenfalls keine Grundlage. Aus den dazu getroffenen Feststellungen ergibt sich vielmehr, dass die Mutter zu Überreaktionen neigt und sich unter Hinweis auf ihre alleinige Obsorge abgrenzt, was zu Gegenreaktionen des Vaters führt. Es verbleibt damit die Darlegung des Erstgerichts, dass ein konstruktives, gemeinsames Vorgehen den Eltern derzeit nicht möglich sei. Dabei handelt es sich wiederum um eine Schlussfolgerung, für die in den Feststellungen keine ausreichende Grundlage besteht. Auch in der Beweiswürdigung finden sich keine Konkretisierungen, die diese Schlussfolgerung begründet erschienen ließen.
Nach den Feststellungen lässt sich das Verhältnis der Eltern in Erziehungsangelegenheiten wie folgt beschreiben: Es bestehen Meinungsverschiedenheiten in Betreuungsfragen sowie unterschiedliche Bewertungen von adäquaten Maßnahmen im Krankheitsfall und in Bezug auf das Verhalten der Eltern und die Reaktionen des Kindes in einer Übergabesituation. Die Einnahme derartiger unterschiedlicher Positionen ist für einen Obsorgestreit allerdings typisch.
Nach den Feststellungen ist die Erziehungsfähigkeit des Vaters gleichermaßen wie bei der Mutter gegeben. Zwischen dem Kind und dem Vater besteht ebenfalls eine gute Bindung und Beziehung. Der Vater will seine Vorstellungen in die Kindererziehung einbringen.
Für die Annahme des Rekursgerichts, dass mit einer für die Ausübung der Obsorge beider Eltern erforderliche Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft in absehbarer Zeit nicht gerechnet werden könne, fehlt eine ausreichende Tatsachengrundlage. Überhaupt fehlen konkrete Feststellungen zu den Fragen, ob und gegebenenfalls in welcher Form zwischen den Eltern eine Kommunikation in Erziehungs- und Betreuungsfragen stattfindet, ob und in welchem Ausmaß die Bereitschaft zu solchen Gesprächen besteht und ob eine ausreichende Kooperations- und Kommunikationsbasis allenfalls unter Heranziehung der Mittel des § 107 Abs 3 AußStrG hergestellt werden kann. Aufgrund dieser relevanten sekundären Feststellungsmängel müssen die Entscheidungen der Vorinstanzen zur Frage der beiderseitigen Obsorge aufgehoben werden.
Im dazu fortgesetzten Verfahren werden va die Möglichkeiten zur Herstellung der für eine beiderseitige Obsorge erforderlichen Gesprächsbasis zu prüfen sein. Dazu wird zu klären sein, ob Aufträge an die Eltern nach § 107 Abs 3 AußStrG zweckmäßig sind. Ebenso wird das wechselseitige Bemühen der Eltern, auf den jeweiligen anderen Elternteil zuzugehen und dessen Beitrag bei der Wahrnehmung der elterlichen Verantwortung zuzulassen, festzustellen und allenfalls auch zu klären sein, welcher Beitrag dem jeweiligen Elternteil im Fall eines Scheiterns der Herstellung der nötigen Gesprächsbasis zukommt.