OGH: Zu den subjektiven Grenzen der materiellen Rechtskraft
Die Wirkungen der materiellen Rechtskraft umfassen die Prozessparteien, deren Rechtsnachfolger und bestimmte andere Personen, auf die ein Gesetz die Entscheidungswirkungen erstreckt
§ 190 ZPO, § 411 ZPO, Art 6 MRK
GZ 1 Ob 28/15x, 24.11.2015
OGH: Die Bindungswirkung ist eine Erscheinungsform der materiellen Rechtskraft und schließt die Verhandlung, Beweisaufnahme und neuerliche Prüfung des rechtskräftig entschiedenen Anspruchs bzw Rechtsverhältnisses aus. Sie ist grundsätzlich dann anzunehmen, wenn sowohl die Identität der Parteien als auch des rechtserzeugenden Sachverhalts, verbunden mit notwendig gleicher rechtlicher Qualifikation, gegeben sind.
Nach ihren subjektiven Grenzen erfassen die Wirkungen der materiellen Rechtskraft die Prozessparteien, deren Rechtsnachfolger und bestimmte andere Personen, auf die ein Gesetz die Entscheidungswirkungen erstreckt. Die Rechtskraft wirkt aber - von den Fällen erweiterter und absoluter Rechtskraft abgesehen - grundsätzlich nur zwischen denselben Parteien („inter partes“).
Eine Bindungswirkung besteht darüber hinaus nur an die im Vorprozess entschiedene Hauptfrage, nicht aber an eine dort beurteilte Vorfrage; die bloße „Entscheidungsharmonie“ allein begründet keine Bindungswirkung.
Zwar erstreckt sich die Bindungswirkung so weit auch auf die Entscheidungsgründe einschließlich der Tatsachenfeststellungen, als sie zur Individualisierung des Urteilsspruchs notwendig sind. Sie erfasst also jenes Tatsachenvorbringen, das zur Vervollständigung oder Entkräftung des rechtserzeugenden Sachverhalts diente, aus dem das erste Urteilsbegehren abgeleitet wurde. Die Entscheidung über ein bloßes Leistungsbegehren im Vorprozess entfaltet aber grundsätzlich keine über dieses hinausgehende Bindungswirkung hinsichtlich des diesem zugrundeliegenden Rechts oder Rechtsverhältnisses. Den Entscheidungsgründen kommt in einem solchen Fall keine weitergehende Bindung zu als es mit Blick auf die Einmaligkeitswirkung der materiellen Rechtskraft die Konkretisierung des Urteilsspruchs erfordert.