19.01.2016 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Zum Verhältnis von § 24 KBGG zu Art 68 VO (EG) 883/2004

Die Beschränkung auf eine lediglich in Österreich (und nicht auch in einem anderen EU-Mitgliedstaat) ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ist als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher unbeachtet zu lassen; die gesetzliche Karenzzeit der Mutter des Kindes nach dem MSchG ist als „Beschäftigung“ iSd Art 68 VO (EG) 883/2004 anzusehen


Schlagworte: Kinderbetreuungsgeld, Anspruchsberechtigung, sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit, Karenzzeit
Gesetze:

 

§ 24 KBGG, Art 6 VO 883/2004, MSchG

 

GZ 10 ObS 148/14h, 22.10.2015

 

OGH: Da die Karenzzeit der Ehefrau des Klägers als „Beschäftigung“ iSd Art 68 VO 883/2004 anzusehen ist, ist nach zutreffender Rechtsansicht der Vorinstanzen Österreich gem Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO 883/2004 der für die Gewährung von Familienleistungen im verfahrensgegenständlichen Zeitraum vorrangig zuständige Mitgliedstaat, weil hier auch der Wohnort des Kindes ist.

 

Die in § 24 Abs 1 Z 2 iVm § 24 Abs 2 KBGG enthaltene Beschränkung auf eine lediglich in Österreich ausgeübte sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ist als unionsrechtswidrig zu qualifizieren und daher wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unbeachtet zu lassen.

 

Die beklagte Partei macht geltend, deutsche Beschäftigungszeiten seien österreichischen Beschäftigungszeiten nicht gleichzustellen, sondern es seien diese Zeiten nur zusammenzurechnen. Eine Zusammenrechnung der Zeiten setze aber das Vorliegen von in mindestens zwei Mitgliedstaaten zurückgelegten Zeiten voraus, was beim Kläger nicht der Fall sei.

 

Diesen Ausführungen ist entgegenzuhalten, dass nach dem mit „Zusammenrechnung der Zeiten“ überschriebenen Art 6 VO 883/2004 der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, dessen Rechtsvorschriften den Erwerb, die Aufrechterhaltung, die Dauer oder das Wiederaufleben des Leistungsanspruchs von der Zurücklegung von Versicherungszeiten, Beschäftigungszeiten, Zeiten einer selbständigen Erwerbstätigkeit oder Wohnzeiten abhängig machen, soweit erforderlich solche nach den Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Zeiten berücksichtigt, als ob es sich um Zeiten handeln würde, die nach den für diesen Träger geltenden Rechtsvorschriften zurückgelegt worden sind.

 

Diese Vorschrift regelt einheitlich und zusammengefasst die früher in der VO (EWG) 1408/71 in den einzelnen Leistungsbereichen normierte Berücksichtung fremdmitgliedstaatlicher Versicherungs-, Beschäftigungs- und Wohnzeiten. Eine inhaltsgleiche Regelung enthielt Art 72 VO (EWG) 1408/71 hinsichtlich der Familienleistungen. In dem zu dieser Bestimmung und zu Art 8 lit c des Abkommens EU-Schweiz über die Freizügigkeit ergangenen Urteil C-257/10, Bergström, hat der EuGH ausgeführt, dass aus dem Wort „Zusammenrechnung“ nicht abgeleitet werden kann, dieser Begriff setze mindestens zwei in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegte Zeiten der Erwerbstätigkeit voraus, und entschieden, dass der zuständige Träger eines Mitgliedstaats, wenn dessen Rechtsvorschriften die Gewährung einer Familienleistung von der Zurücklegung von Versicherungs- oder Beschäftigungszeiten oder Zeiten einer selbständigen Tätigkeit abhängig machen, für die Gewährung dieser Familienleistung auch solche Zeiten berücksichtigen muss, die vollständig im Hoheitsgebiet der Schweizerischen Eidgenossenschaft zurückgelegt wurden.

 

Daher ist entgegen der Ansicht der beklagten Partei Art 6 VO 883/2004 nicht dahin auszulegen, dass die „Zusammenrechnung“ mindestens zwei in verschiedenen Mitgliedstaaten zurückgelegte Zeiten der Erwerbstätigkeit voraussetzt. Es kann somit ein Mitgliedstaat des für die Gewährung einer Leistung zuständigen Trägers für den Zweck der Zusammenrechnung nicht vorsehen, dass eine Zeit der Erwerbstätigkeit in seinem Hoheitsgebiet zurückgelegt worden sein muss, was die Zugrundelegung einer einzigen im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats zurückgelegten Zeit für den Erwerb eines Anspuchs auf eine Leistung der sozialen Sicherheit ausschließe.