OGH: Widersetzen und Kindeswohl nach Art 13 HKÜ
Nach stRsp ist das konkrete Kindeswohl - wie sich aus Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ergibt - auch noch im Vollstreckungsverfahren zu beachten; allerdings kann die im Schnellverfahren nach dem HKÜ getroffene Entscheidung über die Rückgabe des Kindes nicht jedes Mal dann neu aufgerollt werden, wenn derjenige, der sich der Rückgabe widersetzt, neue Tatsachen behauptet; hier kann in dem auf Vollzug des Rückgabebeschlusses geführten Verfahren nur auf neue Umstände Bedacht genommen werden, die zwischen der Anordnung der Rückführung und den Vollstreckungsmaßnahmen eintreten und für das Kindeswohl von Bedeutung sind
Art 13 HKÜ
GZ 6 Ob 218/15z, 26.11.2015
OGH: Das HKÜ strebt die Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse nach einem unter Ausblendung von Rechtsfragen durchgeführten Schnellverfahren an.
Im Interesse der Beschleunigung des Verfahrens entspricht es stRsp, dass im Verfahren über die Rückgabe des Kindes grundsätzlich kein Sachverständigengutachten einzuholen ist. Dies würde der Verpflichtung zur Beschleunigung des Verfahrens zuwiderlaufen. Dem steht auch nicht entgegen, dass in einzelnen Ausnahmefällen die Einholung eines kinderpsychologischen Gutachtens als erforderlich angesehen wurde.
Dieses besondere Beschleunigungsgebot gilt auch für das Vollstreckungsverfahren; Verstöße dagegen können eine Verletzung des Art 6 und 8 EMRK darstellen.
Nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist die zuständige Behörde - ungeachtet der grundsätzlichen Verpflichtung zur sofortigen Rückgabe des Kindes (Art 12 Abs 1) - dann nicht verpflichtet, die Rückgabe anzuordnen, wenn (ua) die Person, die sich der Rückgabe des Kindes widersetzt, nachweist, dass die Rückgabe mit der schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt. Nach Art 13 Abs 2 HKÜ kann die Rückgabe überdies dann abgelehnt werden, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und dass es ein Alter und eine Reife erreicht hat, angesichts deren es angebracht erscheint, seine Meinung zu berücksichtigen.
Im vorliegenden Fall hat der erkennende Senat bereits ausgesprochen, dass die Weigerung der Kinder, nach Mallorca zurückzukehren, kein „Widersetzen“ iSd Art 13 Abs 2 HKÜ darstellt. Nunmehr haben sich die Vorinstanzen jedoch auf das Kindeswohl, sohin auf Art 13 Abs 1 lit b HKÜ, gestützt.
Das Kindeswohl ist nach Art 13 Abs 1 lit b HKÜ das maßgebliche Kriterium. Dem Übereinkommen liegt der Gedanke zugrunde, dass die Rückführung des Kindes dessen Wohl dient, weil es das wirkliche Opfer der Entführung ist und Kindesentführungen durch dieses Übereinkommen verhindert werden sollen. Das konkrete Kindeswohl hat aber - wie sich gerade aus Art 13 Abs 1 lit b des Übereinkommens ergibt - auch noch im Vollstreckungsverfahren den Vorrang vor dem vom Übereinkommen angestrebten Ziel, Kindesentführungen ganz allgemein zu unterbinden. Es darf nicht aus generalpräventiven Gründen zum Schutz des - abstrakten - Kindeswohls, nur um den Eindruck zu verhindern, Kindesentführungen würden sich doch lohnen, die schwerwiegende Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für ein konkret betroffenes Kind herbeigeführt werden.
Der Ausnahmetatbestand des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ist nach der Rsp allerdings eng auszulegen und auf besondere Sachverhalte zu beschränken. Berücksichtigungswürdige drohende Nachteile müssen über die zwangsläufigen Folgen eines erneuten Aufenthaltswechsels hinausgehen, weil sonst das Ziel des HKÜ nicht greifen würde. Eine zu weite Auslegung des Art 13 Abs 1 lit b HKÜ würde den Zielen des Übereinkommens entgegenstehen, zu einer Entscheidung über das Sorgerecht führen und dem entführenden Elternteil unberechtigte Vorteile aus dessen Rechtsbruch verschaffen. Aus diesem Grund ist der Ausnahmetatbestand eng auszulegen und auf wirklich schwere Gefahren zu beschränken. Eine solche Gefährdung des Kindeswohls liegt regelmäßig auch dann nicht vor, wenn geeignete Vorkehrungen getroffen werden können, die den Schutz des Kindes nach seiner Rückkehr gewährleisten.
Der bloße Wunsch des Kindes, in der bisherigen Umgebung zu bleiben, ist hingegen nicht derart gravierend, dass bei Nichterfüllung eine Kindeswohlgefährdung iSd Übereinkommens zu bejahen wäre.
Ob das Kindeswohl iSd Art 13 Abs 1 lit b HKÜ bei einer Rückgabe gefährdet ist, ist eine von den jeweiligen Umständen abhängige Frage, die im Einzelfall zu entscheiden ist. Maßgeblich sind regelmäßig eine Vielzahl von Kriterien, wie insbesondere die Persönlichkeit des jeweiligen Kindes, das bisherige Verhältnis zu Vater und Mutter, die zu erwartende Behandlung beim in der Heimat verbliebenen Elternteil und die Verwurzelung in der neuen Umgebung.
Zur Berücksichtigung von neuen Entwicklungen oder neuen Erkenntnissen im Vollstreckungsverfahren liegt bereits eine gefestigte Rsp vor. Von diesen Grundsätzen sind die Vorinstanzen nicht abgewichen.
Nach stRsp ist das konkrete Kindeswohl - wie sich aus Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ergibt - auch noch im Vollstreckungsverfahren zu beachten. Allerdings kann die im Schnellverfahren nach dem HKÜ getroffene Entscheidung über die Rückgabe des Kindes nicht jedes Mal dann neu aufgerollt werden, wenn derjenige, der sich der Rückgabe widersetzt, neue Tatsachen behauptet. Hier kann in dem auf Vollzug des Rückgabebeschlusses geführten Verfahren nur auf neue Umstände Bedacht genommen werden, die zwischen der Anordnung der Rückführung und den Vollstreckungsmaßnahmen eintreten und für das Kindeswohl von Bedeutung sind.
Aus diesem Grund kann nach stRsp die Behauptung, das Kindeswohl sei gefährdet, im Vollstreckungsverfahren nur auf Sachverhalte gestützt werden, die sich nach der Erlassung der Entscheidung im Titelverfahren ereigneten. Im Vollstreckungsverfahren kann nur in Ausnahmefällen dann ein Vollzug unterbleiben, wenn nach der Anordnung der Rückführung und vor der Anordnung von Vollstreckungsmaßnahmen neue Umstände eingetreten sind, die bei der Anordnung von Vollstreckungsmaßnahmen zu einer schwerwiegenden Kindeswohlgefährdung führen würden und dies nicht durch die in § 110 Abs 4 AußStrG vorgesehenen Unterstützungsmaßnahmen verhindert werden kann.
Auch nach der Rsp des EGMR kann eine Änderung der ausschlaggebenden Umstände nur ausnahmsweise das Absehen von der Vollstreckung einer rechtskräftigen Rückgabeanordnung rechtfertigen. Diese Änderung der Umstände dürfe jedoch nicht durch das Versäumnis der innerstaatlichen Behörden, alle vernünftigerweise zu erwartenden Maßnahmen zur Erleichterung der Vollstreckung zu ergreifen, bewirkt worden sein.
Der erkennende Senat verkennt nicht, dass die Sachverständige sich in ihrem Gutachten maßgeblich auf Entwicklungen stützt, die erst aufgrund der Dauer des Rückführungsverfahrens eingetreten sind. Die Dauer des Rückführungsverfahrens ist maßgeblich auf die Trennung im Titel- und Vollstreckungsverfahren und die sich daraus nach nationalem österreichischen Recht ergebenden mehrfachen Rechtsmittelmöglichkeiten zurückzuführen. Dies zeigt der vorliegende Fall anschaulich, in dem innerhalb eines Zeitraums von knapp zwei Jahren nicht weniger als dreimal der OGH angerufen werden konnte. Dies führt trotz rascher Behandlung der Rechtsmittel (das Rekursgericht entschied regelmäßig innerhalb von wenigen Wochen, der OGH einmal innerhalb von drei Wochen, in den anderen beiden Fällen innerhalb von weniger als drei Monaten) zwangsläufig zu einer erheblichen Verzögerung. Eine raschere Vollstreckung der Rückführungsentscheidung würde verhindern, dass zwischen Rückführungsanordnung und tatsächlicher Durchsetzung der Entscheidung neue Umstände eintreten, die wiederum gegen die Rückführung ins Treffen geführt werden können. Zur zweckmäßigen Ausgestaltung der Verfahrensordnung ist aber der Gesetzgeber berufen; es ist nicht Aufgabe der Gerichte, unbefriedigende Gesetzesbestimmungen im Wege der Auslegung zu korrigieren.
Im vorliegenden Fall würde nach dem mittlerweile vorliegenden Sachverständigengutachten eine zwangsweise Rückführung der Kinder zu einer Traumatisierung führen. Wenn die Vorinstanzen bei dieser Sachlage die Rückführung der Kinder gem Art 13 Abs 1 lit b HKÜ ablehnten, haben sie den ihnen hier zukommenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten. Eine drohende Verletzung eines Grundrechts des rückgabeberechtigten Elternteils darf aber nicht auf dem Rücken der Kinder ausgeglichen werden.