OGH: Zum Grundsatz der sachlichen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme
Bei Massenverfahren erfordert das Grundrecht auf ein faires Verfahren ein möglichst rationelles Vorgehen bei der Beweisaufnahme, das Dauer und Kosten im Rahmen hält; ein Gutachten der OeNB ist ein zulässiges Beweismittel sui generis
§ 412 ZPO, § 281a ZPO, § 503 ZPO, Art 6 EMRK
GZ 1 Ob 39/15i, 22.10.2015
OGH: Die Unmittelbarkeit der Beweisaufnahmen in § 412 ZPO gehört zu den tragenden Grundsätzen der ZPO. Der Grundsatz der sachlichen Unmittelbarkeit besagt, dass der Richter nicht nur die größtmögliche Eigenwahrnehmung anzustreben, sondern auch - unter mehreren möglichen Beweismitteln - das beweiskräftigste auszuwählen hat. IdS liegt auch dann ein Verstoß gegen den Unmittelbarkeitsgrundsatz vor, wenn statt der möglichen Vernehmung eines unmittelbaren Zeugen ein „Beweis vom Hörensagen“ oder eine „schriftliche Aussage“ oder Zeugenaussagen aus Vorakten zur Feststellung solcher Tatsachen zugelassen werden, die durch unmittelbare Beweisaufnahme erhoben werden könnten. Schriftliche Zeugenaussagen laufen sowohl dem Grundsatz der Unmittelbarkeit als auch dem Gebot der Mündlichkeit zuwider und sind somit idR unzulässig.
Allerdings ist der Grundsatz der sachlichen Unmittelbarkeit kein Selbstzweck sondern Mittel zur Wahrheitsfindung, steht in einem Spannungsfeld zur Prozessökonomie und ist daher unter gewissen Voraussetzungen auch verzichtbar. Bei Massenverfahren (Sammelklagen von Anlegern) geht es nicht nur um ein Ressourcenproblem der Justiz, sondern vielmehr um den Zugang der Parteien zu Informationen, um die Kosten des Verfahrens und damit letztlich um den effektiven Zugang zum Recht, sowie um die Belastung der Zeugen und Verfahrensparteien, insbesondere auch der Beklagten, die sich in einer Vielzahl von Verfahren denselben Fragen im Zuge der Zeugen- oder Parteienvernehmung stellen müssen. Diese Gesichtspunkte erfordern nicht zuletzt in Hinblick auf das Grundrecht auf ein faires Verfahren (Art 6 EMRK) ein möglichst rationelles Vorgehen bei der Beweisaufnahme, das Dauer und Kosten der Verfahren im Rahmen hält.
IdR wird ein Rückgriff auf das „sachnächste“, „unmittelbare“ Beweismittel wünschenswert sein, doch lassen sich hier keine absoluten Aussagen treffen. So wird niemand die Verwendung eines Unfallberichts der Polizei oder die schriftlich bekannt gegebenen Auskünfte über Wetterzustände der ZAMG nur deshalb für unzulässig ansehen, weil die den Unfall aufnehmenden Polizeibeamten oder die die Auskunft verfassenden Mitarbeiter der ZAMG ja als Zeugen vernommen werden könnten. Nicht zuletzt in Anbetracht der strukturellen Beweisprobleme auf Seiten des Anlegers über interne Vorgänge des Emittenten geht es daher nicht an, ein Gutachten der OeNB in einem Zivilverfahren einfach zu ignorieren. Es ist aber im Übrigen auch nicht unzulässig, den Prüfer der OeNB zu vernehmen.