23.11.2015 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Zur Frage, ob im Fall der Entziehung eines einem Erwachsenen vor dem 15. Lebensjahr gewährten Pflegegeldes die Voraussetzungen des § 9 Abs 4 BPGG vorliegen müssen

Erreicht der Pflegegeldempfänger ein Alter, in dem eine nicht pflegebedürftige Person keiner Betreuung mehr bedarf, ist der Pflegebedarf nach anderen rechtlichen Grundsätzen - nämlich ohne die Besonderheiten des Differenzpflegebedarfs - zu beurteilen; diese Änderung in den rechtlichen Beurteilungskriterien stellt aber eine wesentliche Änderung iSd § 9 Abs 4 BPGG dar, die eine Neubemessung des Pflegegeldes erlaubt, ohne dass eine Gegenüberstellung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und des damit verbundenen Pflegebedarfs zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenem im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegeldes zu erfolgen hätte


Schlagworte: Pflegegeld, nach dem 15. Lebensjahr, Neubemessung
Gesetze:

 

§ 9 BPGG, § 4 BPGG

 

GZ 10 ObS 32/15a, 01.10.2015

 

OGH: Mit dem Pflegegeldreformgesetz 2012 wurde die Gesetzgebungs- und Vollziehungskompetenz für das Pflegegeld mit Wirkung vom 1. 1. 2012 von den Ländern auf den Bund übertragen und damit das Pflegegeld beim Bund konzentriert. Gem § 48c Abs 1 BPGG gelten rechtskräftige Entscheidungen, die aufgrund landesgesetzlicher Vorschriften ergangen sind, als Entscheidungen nach diesem Bundesgesetz. In § 48c Abs 2 BPGG wird nochmals klargestellt, dass ein aufgrund landesgesetzlicher Regelung zum 31. 12. 2011 rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld ab 1. 1. 2012 als nach dem BPGG zuerkannt gilt. Dieser Übergangsbestimmung ist der Grundsatz zu entnehmen, dass allein aufgrund des durch das Pflegegeldreformgesetz erfolgten Zuständigkeitswechsels vom Land zum Bund ein Entzug oder eine Herabsetzung des Pflegegeldes nicht erfolgen soll. Ein solcher Entzug oder eine Herabsetzung sind nur dann zulässig, wenn die dafür notwendige wesentliche Veränderung auch nach der Rechtslage vor dem 1. 1. 2012 zum Entzug oder zur Herabsetzung des Pflegegeldes berechtigt hätte.

 

Da die hier interessierenden Bestimmungen des BPGG und des StPGG im Wesentlichen ident sind, kommt dem Zuständigkeitsübergang keine relevante Bedeutung zu.

 

Nach § 9 Abs 4 BPGG kann ein rechtskräftig zuerkanntes Pflegegeld entzogen werden, wenn eine Voraussetzung für die Gewährung wegfällt. Das Pflegegeld ist neu zu bemessen, wenn eine für die Höhe des Pflegegeldes wesentliche Veränderung eintritt. Da der Zweck des Pflegegeldes darin besteht, pflegebedingte Mehraufwendungen abzudecken, soll dadurch insbesondere gewährleistet werden, dass das Pflegegeld bei Änderungen in der Sach- oder Rechtslage entsprechend neu bemessen werden kann. Demnach setzt ein Leistungsentzug grundsätzlich eine wesentliche Veränderung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und in dessen Folge eine Änderung im Umfang des Pflegebedarfs voraus, die die Gewährung einer anderen Pflegegeldstufe erforderlich macht. Ausgehend von den Tatsachengrundlagen ist zu beurteilen, ob sich die objektiven Grundlagen für die seinerzeitige Leistungszuerkennung so wesentlich geändert haben, dass sich eine Veränderung mit Anspruch auf eine andere Pflegegeldstufe ergeben hat. Dabei sind auch die Änderungen im Pflegebedarf, der für das Ausmaß der Pflegegeldstufe maßgeblich ist, zueinander in Beziehung zu setzen, um daraus ableiten zu können, ob eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

 

Die Vorinstanzen sind davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall die Prüfung geänderter Verhältnisse im Zustandsbild des Klägers iSd § 9 Abs 4 BPGG entfallen kann, da nach § 4 Abs 3 Satz 1 BPGG - rein altersbedingt - ab Vollendung des 15. Lebensjahres geänderte Kriterien bei der Ermittlung des Pflegebedarfs maßgebend sind und daher mit Erreichung dieser Altersgrenze generell eine Neueinstufung erforderlich ist.

 

§ 4 Abs 3 BPGG sieht vor, dass bei der Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen bis zum vollendeten 15. Lebensjahr nur jenes Ausmaß an Pflege zu berücksichtigen ist, das über das erforderliche Ausmaß von gleichaltrigen nicht behinderten Kindern und Jugendlichen hinausgeht (= Differenzpflegebedarf). Die Altersgrenze von 15 Jahren wurde mit der Änderung des BPGG BGBl I Nr 128/2008 eingeführt und trat mit 1. 1. 2009 in Kraft (§ 49 Abs 13 BPGG). Auch das StPGG sah erst aufgrund der Novelle LGBl Nr 7/2010 in § 4 Abs 3 die Altersgrenze von 15 Jahren für die Berücksichtigung des Differenzpflegebedarfs vor. Dieses Gesetz trat mit 1. 7. 2009 in Kraft. Damals war der Kläger schon 19 Jahre alt.

 

Allerdings war nach § 4 Abs 3 BPGG (§ 4 Abs 5a StPGG idF LGBl Nr 26/1999) bereits zuvor bei Kindern und Jugendlichen nur der Pflegebedarf zu berücksichtigen, der den gleichaltriger nicht behinderter Kinder übersteigt.

 

Damit waren bei Kindern und Jugendlichen auch schon vor Einführung der konkreten Altersgrenze andere Kriterien für die Ermittlung des Pflegebedarfs maßgebend als bei Erwachsenen. Die Heranziehung des Differenzpflegebedarfs bedeutet auch, dass eine verpflichtende Übernahme der in den jeweiligen Einstufungsverordnungen vorgesehenen zeitlichen Mindestwerte nicht in Betracht kommt. Die bei Kindern erforderliche konkret-individuelle Prüfung hat für Hilfsverrichtungen dabei nicht nur dann stattzufinden, wenn der Pflegebedarf für eine Hilfsverrichtung den dafür vorgesehenen fixen Zeitwert unterschreitet, sondern gilt in gleicher Weise auch für den umgekehrten Fall, dass der tatsächliche Pflegebedarf diesen Zeitwert überschreitet.

 

Erreicht der Pflegegeldempfänger ein Alter, in dem eine nicht pflegebedürftige Person keiner Betreuung mehr bedarf, ist der Pflegebedarf nach anderen rechtlichen Grundsätzen - nämlich ohne die dargestellten Besonderheiten des Differenzpflegebedarfs - zu beurteilen. Diese Änderung in den rechtlichen Beurteilungskriterien stellt aber eine wesentliche Änderung iSd § 9 Abs 4 BPGG dar, die eine Neubemessung des Pflegegeldes erlaubt, ohne dass eine Gegenüberstellung des Zustandsbildes des Pflegebedürftigen und des damit verbundenen Pflegebedarfs zum Zeitpunkt der Gewährung zu jenem im Zeitpunkt der Neubemessung des Pflegegeldes zu erfolgen hätte.

 

Dass für diesen Übergang vor der Novelle BGBl I Nr 128/2008 keine bestimmte Altersgrenze vorgesehen war, ist im vorliegenden Fall nicht von Bedeutung, da der Kläger zum relevanten Zeitpunkt der letztmaligen Zuerkennung von Pflegegeld 14 Jahre alt war, sein Pflegebedarf daher jedenfalls noch nach den für Kinder und Jugendliche geltenden Kriterien zu bemessen war. Bei der Entziehung war er 24 Jahre alt und daher als Erwachsener zu beurteilen. Insofern unterscheidet sich der gegenständliche Fall auch von dem der Entscheidung 10 ObS 195/03d zugrundeliegenden Sachverhalt, da der damalige Kläger im Zeitpunkt der Entziehung des Pflegegeldes erst knapp 16 Jahre alt war und nach der damals geltenden Rechtslage noch keine feste Altersgrenze von 15 Jahren für die Beurteilung des Pflegebedarfs von Kindern und Jugendlichen vorgesehen war. Zu Recht sind daher die Vorinstanzen davon ausgegangen, dass eine Neubemessung allein aufgrund der für den Pflegebedarf des Klägers nunmehr geltenden anderen rechtlichen Voraussetzungen zulässig ist.