15.06.2015 Verfahrensrecht

OGH: Allgemeine Zuständigkeit nach Art 8 Brüssel IIa-VO – zum „gewöhnlichen Aufenthalt“

Im Fall eines rechtmäßigen Umzugs kann sich der gewöhnliche Aufenthalt auch nach sehr kurzer Frist in den Zuzugsstaat verlagern; ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts kann insbesondere die entsprechende übereinstimmende Absicht der Eltern sein, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Staat niederzulassen


Schlagworte: Internationales Verfahrensrecht, Familienrecht, elterliche Verantwortung, allgemeine Zuständigkeit, Obsorge, Übersiedlung des Kindes
Gesetze:

 

Art 8 Brüssel IIa-VO

 

GZ 6 Ob 194/14v, 19.03.2015

 

OGH: Nach Art 8 Abs 1 Brüssel IIa-VO sind für Entscheidungen, die die elterliche Verantwortung betreffen, die Gerichte des Mitgliedstaats zuständig, in dem das Kind zum Zeitpunkt der Antragstellung seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Die Zuständigkeitsprüfung bezieht sich in zeitlicher Hinsicht auf den „Zeitpunkt der Antragstellung“. Dieser ist im vorliegenden Fall der 15. 10. 2013, an dem der Obsorgeantrag des Vaters beim Erstgericht einlangte (vgl Art 16 lit a Brüssel IIa-VO). Art 8 Brüssel IIa-VO statuiert den Grundsatz der Fortdauer der internationalen Zuständigkeit, wenn diese im Zeitpunkt der Antragstellung gegeben war.

 

Nach der Rsp des EuGH ist der in der Verordnung nicht definierte Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ nicht nach den jeweiligen nationalen Bestimmungen, sondern autonom entsprechend den Zielen und Zwecken der Verordnung auszulegen (EuGH 2. 4. 2009, C-253/07). Dieser Begriff ist nach der genannten Entscheidung des EuGH dahin auszulegen, dass darunter der Ort zu verstehen ist, der Ausdruck einer gewissen sozialen und familiären Integration des Kindes ist. Hiefür sind insbesondere die Dauer, die Regelmäßigkeit und die Umstände des Aufenthalts in einem Mitgliedstaat sowie die Gründe für diesen Aufenthalt und den Umzug der Familie in diesen Staat, die Staatsangehörigkeit des Kindes, Ort und Umstände der Einschulung, die Sprachkenntnisse sowie die familiären und sozialen Bindungen des Kindes in dem betreffenden Staat zu berücksichtigen. Es ist Sache des nationalen Gerichts, unter Berücksichtigung aller tatsächlichen Umstände des Einzelfalls den gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes festzustellen. Im Fall eines rechtmäßigen Umzugs kann sich der gewöhnliche Aufenthalt auch nach sehr kurzer Frist in den Zuzugsstaat verlagern. Ein Indiz für die Verlagerung des gewöhnlichen Aufenthalts kann insbesondere die entsprechende übereinstimmende Absicht der Eltern sein, sich mit dem Kind dauerhaft in einem anderen Staat niederzulassen.

 

Zum Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ (dort nach Art 3 Abs 1 lit a Brüssel IIa-VO) hat der OGH bereits ausgeführt, dass für die Ausfüllung des Kriteriums „Lebensmittelpunkt“ bei freien und erwachsenen Menschen der Wille mittelbar erhebliches Gewicht hat (1 Ob 115/09g).