OGH: Konkurrierende Obsorgeentscheidungen im Anwendungsbereich des Haager Minderjährigenschutzabkommens (MSA) und Vorbehaltsklausel des Art 16 MSA
Droht eine eklatante Gefährdung des Kindeswohls, liegt die Anwendung der Vorbehaltsklausel des Art 16 MSA nahe
Art 16 MSA, Art 4 MSA, § 6 IPRG
GZ 6 Ob 138/13g, 28.08.2013
OGH: Gem Art 4 Abs 3 MSA haben die Behörden des Staates, dem der Minderjährige angehört, für die Durchführung der getroffenen Maßnahmen zu sorgen. Dem entsprach die türkische Botschaft, indem sie mit Verbalnote vom 19. April 2013 das Urteil des 6. Familiengerichts Ankara vom 9. November 2012 übermittelte, das den Minderjährigen „in Obhut nimmt“.
Für Maßnahmen nach dem MSA sind primär die Behörden (Gerichte) des Aufenthaltsstaates des Minderjährigen zuständig. Die Heimatbehörde hat sorgfältig abzuwägen, ob das Wohl des Kindes ihr Einschreiten erfordert. Die Maßnahmen der Heimatbehörde verdrängen nach Art 4 Abs 4 MSA jene der Behörden am gewöhnlichen Aufenthaltsort und schließen für die Zeit ihrer Dauer (mit Ausnahme der Gefährdungszuständigkeit nach Art 8 MSA) auch die weitere Zuständigkeit der Behörden des gewöhnlichen Aufenthalts aus. Es besteht daher ein eindeutiger Vorrang der Heimatbehörden.
Art 16 MSA legt fest, dass die Bestimmungen dieses Abkommens nur dann unbeachtet bleiben dürfen, wenn ihre Anwendung mit der öffentlichen Ordnung offensichtlich unvereinbar ist. Dies entspricht der Vorbehaltsklausel nach § 6 IPRG, wonach die Anwendung fremden Rechts nicht zu Ergebnissen führen darf, die mit den Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung unvereinbar sind.
Als systemwidrige Ausnahme erfordert die ordre-public-Klausel sparsamsten Gebrauch. Eine schlichte Unbilligkeit des Ergebnisses genügt ebensowenig wie der bloße Widerspruch zu zwingenden österreichischen Vorschriften. Vielmehr müssen Grundwertungen der österreichischen Rechtsordnung verletzt sein. Das Ergebnis der Anwendung fremden Rechts muss anstößig sein und nicht das fremde Sachrecht an sich, überdies muss eine ausreichende Inlandsbeziehung bestehen.
Der Inhalt der geschützten Grundwertungen des österreichischen Rechts lässt sich im Einzelnen nicht definieren und ist auch zeitlichen Veränderungen unterworfen. Neben den verfassungsrechtlich geschützten Grundwerten zählt insbesondere auch das Kindeswohl im Kindschaftsrecht dazu; eine eklatante Gefährdung des Kindeswohls steht unter der Vorbehaltsklausel. Das Kindeswohl ist oberste Maxime des Pflegschaftsverfahrens.
Die Anwendung der Vorbehaltsklausel des Art 16 MSA durch die Vorinstanzen bildet keine vom OGH im Interesse der Rechtssicherheit aufzugreifende Fehlbeurteilung. Da der türkische Minderjährige seit mehr als vier Jahren in Österreich lebt, abgesehen von seiner Staatsangehörigkeit mangels dort lebender Bezugspersonen keine Bindungen in die Türkei hat, aber durch die angestrebte Obsorgeübertragung an eine türkische Behörde in der Türkei die reale Gefahr seiner Traumatisierung besteht, also eine eklatante Gefährdung des Kindeswohls droht, liegt die Anwendung der Vorbehaltsklausel des Art 16 MSA nahe.