OGH: Zur kontradiktorischen Vernehmung des Zeugen und den Verteidigungsrechten des Beschuldigten
Verletzung der Verteidigungsrechte des Angeklagten iSd Art 6 Abs 3 lit d EMRK durch Abweisung seines Antrages, die Zeugin zu neuem Tatvorwurf ergänzend zu befragen
§ 165 StPO, § 247 StPO, § 252 StPO, Art 6 EMRK
GZ 15 Os 123/12w, 12.12.2012
OGH: Gem § 156 Abs 1 Z 2 StPO sind Personen, die durch die dem Beschuldigten zur Last gelegte Tat in ihrer Geschlechtssphäre verletzt worden sein könnten, von der Pflicht zur Aussage befreit, wenn die Parteien Gelegenheit hatten, sich an einer vorausgegangenen kontradiktorischen Vernehmung (vgl §§ 165, 247 StPO) zu beteiligen. Das Protokoll über eine solche Vernehmung sowie Ton- und Bildaufnahmen davon dürfen gem § 252 Abs 1 Z 2a StPO in der HV verlesen oder vorgeführt werden. Dabei ist gleichgültig, in welchem gegen den Angeklagten geführten gerichtlichen Verfahren, in welchem Verfahrensstadium und bei welcher Verdachtslage die kontradiktorische Vernehmung stattgefunden hat. Voraussetzung dafür ist es aber, dass der Beschuldigte davor die Möglichkeit hatte, seine Verteidigungsrechte effektiv wahrzunehmen.
Eine wirksame Ausübung der Verteidigungsrechte im Rahmen einer kontradiktorischen Vernehmung setzt aber voraus, dass dem Beschuldigten nicht nur Ort und Zeit der Beweistagsatzung, sondern auch der Gegenstand der Befragung bekannt gegeben wurden. Im vorliegenden Fall erhielt die Ladung lediglich den Hinweis auf den „Verdacht der Blutschande“, nicht aber auf den Verdacht einer weiteren - als Vergewaltigung beurteilten -Tat.
Die Vernehmung war daher im Umfang des Schuldspruchs der Vergewaltigung nicht kontradiktorisch iSd § 165 StPO, weil der Beschuldigte keine Information hatte, die es ihm ermöglicht hätten, sein Recht zur Befragung der Zeugin zu diesem Tatvorwurf wahrzunehmen. Der Angeklagte wurde daher durch die Abweisung seines Antrags, die Zeugin zu diesem Thema ergänzend zu befragen, in seinen Verteidigungsrechten iSd Art 6 Abs 3 lit d EMRK verletzt.