OGH: Nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer vom Jugendwohlfahrtsträger angeordneten Unterbringung einer Minderjährigen in einem Krisenzentrum?
Einem Elternteil steht im Lichte des Art 8 EMRK ein Antrag auf nachträgliche Überprüfung der Rechtmäßigkeit einer vom Jugendwohlfahrtsträger angeordneten Unterbringung der Tochter in einem Krisenzentrum zu; eine vorläufige Maßnahme nach § 215 Abs 1 zweiter Satz ABGB aF (§ 211 ABGB nF) hat nicht schon dann zu erfolgen, wenn eine Kindeswohlgefährdung nicht zweifelsfrei auszuschließen ist; sie kommt vielmehr nur in Frage, wenn ganz bestimmte Umstände darauf hinweisen, dass die Eltern (bzw der allein obsorgebetraute Elternteil) die elterlichen Pflichten (objektiv) nicht erfüllen (erfüllt) oder diese (subjektiv) gröblich vernachlässigt worden sind und die Eltern (bzw der allein obsorgebetraute Elternteil) durch ihr (sein) Gesamtverhalten das Wohl des Kindes gefährden (gefährdet)
§ 215 ABGB aF, § 211 ABGB nF, Art 8 EMRK
GZ 5 Ob 152/12g, 23.10.2012
Der Jugendwohlfahrtsträger hatte ein Mädchen, welches andernfalls angeblich von zu Hause fortlaufen wollte, in einem Krisenzentrum untergebracht. Die Mutter beantragte die nachträgliche Feststellung, dass diese vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzte Maßnahme rechtswidrig gewesen sei.
Die Gerichte erster und zweiter Instanz erachteten das Vorgehen des Jugendwohlfahrtsträgers für rechtmäßig.
OGH: Der Jugendwohlfahrtsträger hat die zur Wahrung des Wohls eines Minderjährigen erforderlichen gerichtlichen Verfügungen im Bereich der Obsorge zu beantragen. Bei Gefahr im Verzug kann er die erforderlichen Maßnahmen der Pflege und Erziehung vorläufig mit Wirksamkeit bis zur gerichtlichen Entscheidung selbst treffen; er hat dann unverzüglich, jedenfalls innerhalb von acht Tagen, die Entscheidung des Gerichts zu beantragen.
Voraussetzung für eine solche vorläufige Maßnahme des Jugendwohlfahrtsträgers ist die offenkundige Gefährdung des Kindeswohls und die Notwendigkeit einer Änderung des bestehenden Zustands. Ob die vom Jugendwohlfahrtsträger gesetzte vorläufige Maßnahme zulässig war, ist aufgrund einer ex-ante-Betrachtung auf Basis der dem Jugendwohlfahrtsträger zur Verfügung gestandenen oder im Falle gebotener Erhebungen verfügbaren Informationen zu prüfen.
Das Erstgericht hat aber keine ausreichenden Feststellungen getroffen, die eine Klärung der Frage der Rechtsmäßigkeit der Maßnahme erlaubt hätte. Im fortgesetzten Verfahren muss daher näher erhoben und festgestellt werden, insbesondere welchen Eindruck und welche Informationen über die familiären Verhältnisse die Mitarbeiter des Jugendwohlfahrtsträgers vom Mädchen hatten gewinnen können.