OGH: § 350 Abs 3 ASVG – Verpflichtung einer vorherigen chef- bzw kontrollärztlichen Bewilligung von Heilmitteln?
Die Nichteinholung der chef-(kontroll-)ärztlichen Bewilligung hat für den Versicherten lediglich zur Folge, dass er erst nachträglich mit dem Krankenversicherungsträger abzuklären hat, ob zB eine bereits in Anspruch genommene Untersuchungsmethode oder ein schon konsumiertes Heilmittel anerkannt wird; einen Verlust des Anspruchs bewirkt die unterlassene Einholung der Bewilligung des Chef-(Kontroll-)arztes jedoch nicht
§ 350 ASVG, § 136 ASVG
GZ 10 ObS 104/12k, 23.10.2012
OGH: Die Krankenbehandlung umfasst nach § 133 Abs 1 ASVG die ärztliche Hilfe (§ 135), Heilmittel (§ 136) und Heilbehelfe (§ 137). Die Heilmittelverschreibung ist somit Teil der Krankenbehandlung. Voraussetzung für die Inanspruchnahme ärztlicher Hilfe durch einen Vertragsarzt, in einer Vertrags-Gruppenpraxis oder in eigenen Einrichtungen (Vertragseinrichtungen) des Versicherungsträgers ist gem § 135 Abs 3 ASVG nur die Vorlage der als Krankenscheinersatz zu verwendenden Chipkarte. Hingegen dürfen gem § 350 Abs 1 ASVG Heilmittel (§ 136) und Heilbehelfe (§ 137) usw auf Rechnung der Krankenversicherungsträger von Apothekern und Hausapotheken führenden Ärzten nur unter bestimmten Voraussetzungen abgegeben werden. So dürfen beispielsweise Arzneispezialitäten, die - wie im vorliegenden Fall das Präparat „Avastin“ - nicht im Erstattungskodex angeführt sind, auf Kosten der Sozialversicherung nur nach ärztlicher Bewilligung des ärztlichen (vormals chef- und kontrollärztlichen) Dienstes der Sozialversicherungsträger verschrieben werden. In begründeten Einzelfällen ist jedoch die Erstattungsfähigkeit auch dann gegeben, wenn die Arzneispezialität nicht im Erstattungskodex angeführt ist, aber die Behandlung aus zwingenden therapeutischen Gründen notwendig ist und damit die Verschreibung in diesen Einzelfällen nicht mit Arzneispezialitäten aus dem Erstattungskodex durchgeführt werden kann. Diese unterliegen der ärztlichen Bewilligung des chef- und kontrollärztlichen Dienstes (vgl § 31 Abs 3 Z 12 ASVG). Für alle nach dem 31. 12. 2004 durchzuführenden Verschreibungen solcher Arzneispezialitäten hat der verordnende Vertragsarzt vom ärztlichen Dienst der Sozialversicherung die Bewilligung einzuholen.
Die Rechtsansicht der Revisionswerberin, die Verpflichtung einer chef- bzw kontrollärztlichen Bewilligung von Heilmitteln, die im Erstattungskodex des Hauptverbands der österreichischen Sozialversicherungsträger nicht angeführt sind, sei gesetzlich verankert, ist daher grundsätzlich zutreffend. Zutreffend verweist die Revisionswerberin auch darauf, dass gem § 31 Abs 5 Z 13 ASVG durch den Hauptverband Richtlinien über die ökonomische Verschreibweise von Heilmitteln und Heilbehelfen (RöV) aufzustellen sind, die für die Vertragspartner (§§ 338 ff) verbindlich sind. Es soll durch diese Richtlinien insbesondere auch unter Bedachtnahme auf die Art und Dauer der Erkrankung bestimmt werden, inwieweit Arzneispezialitäten für Rechnung der Sozialversicherungsträger abgegeben werden können. Durch die Richtlinien darf allerdings der Heilzweck nicht gefährdet werden. Nach § 6 Abs 1 Z 2 RöV ist bei Verschreibung eines nicht im Erstattungskodex angeführten Heilmittels eine Bewilligung möglich, wenn die Behandlung aus zwingenden therapeutischen Gründen notwendig ist und deshalb eine Arzneispezialität aus dem Erstattungskodex zur Krankenbehandlung überhaupt nicht zur Verfügung steht. Für die Heilmittelversorgung ist das „chefärztliche Vorbewilligungssystem“ ein wichtiges Instrument, um einerseits für die Aufnahme von Medikamenten in das Sachleistungssystem erfolgreich Preisverhandlungen führen und andererseits auch für Versicherte, die mit den üblichen Therapien nicht ausreichend behandelt werden können, im Einzelfall die Kosten für „unkonventionelle“ Vorgangsweisen übernehmen zu können.
Der Erstattungskodex und die vom Hauptverband verlautbarten Richtlinien über die ökonomische Verschreibweise von Heilmitteln und Heilbehelfen (RöV) bewirken allerdings keine Beschränkung des gesetzlichen Anspruchs des Versicherten auf Heilmittel und Heilbehelfe. Das hat die Judikatur zum früheren Heilmittelverzeichnis mehrfach festgehalten. Auch durch den Erstattungskodex hat sich daran nichts geändert. Der Versicherte hat zwar keinen Anspruch auf Beistellung eines jeden von ihm gewünschten oder vom Arzt verschriebenen Heilmittels. Eine Bindung an den Erstattungskodex besteht aber nicht. Was die Erstattungsfähigkeit von Heilmitteln betrifft, die (noch) nicht im Erstattungskodex angeführt sind, lässt sich das aus den einschlägigen Regelungen selbst begründen. Denn für begründete Einzelfälle sehen die Bestimmungen des § 31 Abs 1 Z 12 ASVG bzw § 6 Abs 1 Z 2 RöV die Erstattung ohnehin vor. Dem Versicherten steht somit das im konkreten Fall notwendige und wirtschaftlichste Heilmittel zu. In erster Linie sollen die Wirksamkeit des Mittels und das Wohl des Kranken ausschlaggebend sein. Deshalb kann auch eine erforderliche, aber fehlende Genehmigung des chefärztlichen Dienstes den Anspruch des Versicherten auf Heilmittel nicht beschränken.
Der Umstand, dass im vorliegenden Fall keine ex-ante-Genehmigung des Präparats „Avastin“ durch den chef- bzw kontrollärztlichen Dienst der beklagten Partei eingeholt wurde, führt somit entgegen der Rechtsansicht der Revisionswerberin nicht zwingend zu dem Ergebnis, dass eine Kostenerstattung für dieses Präparat nicht mehr in Betracht kommt. Die Einrichtung der Chef-(Kontroll-)arztpflicht ist als Maßnahme zum Schutz der Versicherten und nicht als Ausschlussregelung für die Kostentragung von Heilmitteln und Heilbehelfen (auch Krankenbehandlung) zu verstehen. Der Sinn des chef-(kontroll-)ärztlichen Handelns ist die Gewährleistung einer zweckentsprechenden Krankenbehandlung. Für die Versicherten soll im Vorhinein die Kostentragung durch die Krankenversicherungsträger durch die Bewilligung seitens des Chef-(Kontroll-)arztes abgesichert werden bzw soll der Versicherte nicht mit dem Risiko belastet werden, erst im Nachhinein zu erfahren, ob die Kosten einer erfolgreichen Krankenbehandlung, eines Heilmittels oder eines Heilbehelfes als dem Heilzweck entsprechend anerkannt werden. Die Nichteinholung der chef-(kontroll-)ärztlichen Bewilligung hat für den Versicherten somit lediglich zur Folge, dass er erst nachträglich mit dem Krankenversicherungsträger abzuklären hat, ob zB eine bereits in Anspruch genommene Untersuchungsmethode oder ein schon konsumiertes Heilmittel anerkannt wird. Einen Verlust des Anspruchs bewirkt die unterlassene Einholung der Bewilligung des Chef-(Kontroll-)arztes jedoch nicht. Entscheidend für den Anspruch des Versicherten ist, ob die in Anspruch genommenen Heilmittel sowie Heilbehelfe oder sonstige Maßnahmen der Krankenbehandlung heilzweckentsprechend sind.