10.12.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Invaliditätspension – zur Frage, ob die im Rahmen einer AMFG-Maßnahme erworbenen Beitragszeiten als qualifizierte Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG zu qualifizieren sind, wenn der Versicherte während dieses Zeitraums eine Tätigkeit in seinem bereits zuvor erlernten Beruf ausgeübt hat

Schulungszeiten nach dem AMFG sind (zwar) Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG, jedoch nicht Zeiten einer qualifizierten Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG


Schlagworte: Pensionsversicherung, Invaliditätspension, Umschulung im Rahmen des AMFG keine qualifizierte Beschäftigung
Gesetze:

§ 255 ASVG, § 254 ASVG, AMFG

GZ 10 ObS 105/12g, 02.10.2012

 

OGH: Invalidität iSd § 255 Abs 1 ASVG liegt dann vor, wenn ein Versicherter überwiegend in erlernten (angelernten) Berufen tätig war und seine Arbeitsfähigkeit infolge seines körperlichen oder geistigen Zustands auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten von ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten in jedem dieser Berufe herabgesunken ist. Als überwiegend iSd Abs 1 gelten solche erlernten (angelernten) Berufstätigkeiten, wenn sie in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag ausgeübt wurden (§ 255 Abs 2 Satz 2 ASVG in der hier noch anzuwendenden Fassung vor dem Inkrafttreten des BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111).

 

Der Versicherte genießt somit nach § 255 Abs 1 ASVG nur dann Berufsschutz, wenn er in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate während der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in einem erlernten Beruf tätig war. Wer einen Beruf erlernt, diesen aber im Beobachtungszeitraum nicht oder nicht überwiegend ausgeübt hat, genießt daher keinen Berufsschutz. Der Gesetzgeber billigt die privilegierende Wirkung des Berufsschutzes somit nur dann zu, wenn der Versicherte die erworbenen qualifizierten Kenntnisse und Fähigkeiten auch in der Praxis anwendet. Der Berufsschutz kann daher etwa dann verloren gehen, wenn der Versicherte seinen erlernten Beruf aus gesundheitlichen Gründen (zB als Folge eines Arbeitsunfalls) aufgeben musste und anschließend längere Zeit nichtqualifizierte Arbeit geleistet hat. Da § 255 Abs 1 und 2 ASVG auf das „Tätigsein“ bzw das „Ausüben einer Tätigkeit“ abstellt, sind auch Zeiten der freiwilligen Versicherung bei der Frage, ob ein Beruf überwiegend ausgeübt wurde, als Beitragszeiten mitzuberücksichtigen; sie sind jedoch nicht als „qualifizierte“ Zeiten anzurechnen.

 

Ebenso sind nach stRsp auch Schulungszeiten nach dem AMFG (zwar) Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG, jedoch nicht Zeiten einer qualifizierten Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG.

 

StRsp entspricht es auch, dass ein Beschäftigter während der Lehr- bzw Anlernzeit nicht im erlernten (angelernten) Beruf tätig ist; er übt also keine (qualifizierte) Berufstätigkeit iSd § 255 Abs 2 Satz 2 ASVG aus, sodass die (Lehr-)Zeit bei Prüfung der Frage, ob in mehr als der Hälfte der Beitragsmonate nach dem ASVG eine erlernte Berufstätigkeit ausgeübt wurde, außer Betracht zu bleiben hat. Auch ein angelernter Beruf wird erst ab dem Zeitpunkt ausgeübt, an dem die Anlernung abgeschlossen ist.

 

Von diesen Grundsätzen ausgehend, hat der OGH in der Entscheidung 10 Ob 139/09b die vom dortigen Kläger nach einiger Zeit der Arbeitslosigkeit absolvierte Umschulung im Rahmen des AMFG (die er mit bestandener Lehrabschlussprüfung im Lehrberuf Maurer abschloss [sieben Beitragsmonate]), wie folgt qualifiziert: Die Versicherungszeiten, die der Kläger während seiner Ausbildung zum Maurer als Maßnahme nach dem AMFG erwarb, sind Versicherungszeiten der Ausübung einer nichtqualifizierten Beschäftigung.

 

Daran hat der erkennende Senat auch zuletzt festgehalten und in der, die Qualifikation des Besuchs von Schulungskursen nach dem AMFG betreffenden Entscheidung 10 ObS 144/10i (zum für § 255 Abs 7 ASVG maßgebenden Beginn der Erwerbskarriere), ausgeführt, dass nicht allein auf die Begründung einer Pflichtversicherung (etwa im Rahmen von „Schulungsmaßnahmen“ nach dem AMFG) abzustellen ist, sondern auf beide Elemente, nämlich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit und den Eintritt in die Pflichtversicherung kombiniert. Mangels exakter Feststellungen darüber, welche Tätigkeiten der dortige Kläger im Rahmen der festgestellten Schulungsmaßnahmen verrichtet hatte, war davon auszugehen, dass es sich um diverse Kurse handelte, mit denen die Arbeitssuche des Klägers gefördert werden sollte. Auf dieser Grundlage konnten die 14 Beitragsmonate der Pflichtversicherung, die der Kläger als Umschüler im Rahmen des AMFG erworben hatte, nicht dazu führen, dass bereits von einem die Pflichtversicherung begründenden Eintritt in das Erwerbsleben auszugehen war.

 

Umso weniger kann im vorliegenden Fall davon ausgegangen werden, dass der Kläger - entgegen den dargelegten Grundsätzen - mit seinen Schulungszeiten nach dem AMFG nicht nur Beitragsmonate der Pflichtversicherung nach dem ASVG, sondern auch Zeiten einer qualifizierten Beschäftigung iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG erworben hätte.

 

Es trifft zwar zu, dass iZm der Prüfung der Verweisbarkeit eines Versicherten nach § 255 Abs 1 und 2 ASVG unterschieden werden muss, ob ein Berufsschutz iSe gelernten oder angelernten Berufs erst zu erwerben ist oder ob ein bereits erworbener Berufsschutz durch später ausgeübte Teiltätigkeiten weiterhin erhalten bleibt. Nach stRsp des OGH geht der Berufsschutz auch dann nicht verloren, wenn in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag in der Praxis nur noch Teiltätigkeiten des erlernten bzw angelernten Berufs ausgeübt werden, sofern diese quantitativ und qualitativ nicht ganz unbedeutend waren. Entscheidend ist, ob ein Kernbereich der Ausbildung auch bei Ausübung der Teiltätigkeit verwertet werden muss.

 

Für den vorliegenden Fall ist daraus jedoch nichts zu gewinnen, weil den hier maßgebenden Maler- und Anstreichertätigkeiten, die der Kläger im Rahmen der AMFG-Kurse (auch) erbracht hat, schon die erforderliche Eigenschaft einer qualifizierten Berufsausübung im erlernten Beruf fehlt:

 

Zutreffend verweist die beklagte Partei hier auf den Umstand, dass der Kläger schon nach der Zielsetzung und der Zielgruppe der vom Kläger besuchten Kurse jedenfalls keine (qualifizierte) Erwerbstätigkeit leisten konnte; steht doch fest, dass mit diesen AMFG-Schulungen langzeitbeschäftigungslose Notstandshilfeempfänger durch praktische Arbeiten (insbesondere die Sanierung öffentlicher Gebäude, auch durch Ausmalen) in Form eines „Learning by Doing“ wieder die Routine für das Arbeitsleben (pünktliches Erscheinen, Arbeitsdisziplin) erwerben sollten, dass es sich also lediglich um „praxisorientierte Kursmaßnahmen“ handelte.

 

Demgemäß ist unstrittig, dass die von den Kursteilnehmern im Rahmen dieses Kurses in drei Monaten fertiggestellten Arbeiten von Arbeitnehmern gewerblicher Unternehmen in (nur) 14 Tagen erledigt würden. Auch daraus ist abzuleiten, dass die Kurse - wie ohnehin ausdrücklich feststeht - allein dem Ziel der Wiedereingliederung der Teilnehmer in den Arbeitsmarkt dienten und nicht der „Erbringung wirtschaftlicher Leistungen“.

 

In diesem Sinne sieht auch § 255 Abs 2 zweiter Satz ASVG in der seit 1. 1. 2011 geltenden Fassung des BudgetbegleitG 2011, BGBl I 2010/111, nunmehr ausdrücklich vor, dass eine überwiegende Tätigkeit iSd Abs 1 vorliegt, wenn innerhalb der letzten 15 Jahre vor dem Stichtag in zumindest 90 Pflichtversicherungsmonaten eine Erwerbstätigkeit nach Abs 1 oder als Angestellte/r ausgeübt wurde.

 

Damit scheidet aber - entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts - jedenfalls auch die Möglichkeit einer Anrechnung der AMFG-Zeiten als berufsschutzerhaltend von vornherein aus:

 

Es ist nämlich auch sachlich gerechtfertigt, zwischen den am allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeübten, allenfalls berufsschutzerhaltenden Berufstätigkeiten und den im Rahmen von AMFG-Schulungen ausgeübten Tätigkeiten zu unterscheiden, die - wie hier - ausdrücklich nicht dem Ziel der „Erbringung wirtschaftlicher Leistungen“ sondern dem angeführten Schulungszweck dienten.

 

Da die Verweisbarkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gar nicht bestritten wird, wurde ihm die begehrte Pensionsleistung von der beklagten Partei somit zu Recht verweigert.