19.11.2012 Arbeits- und Sozialrecht

OGH: Dienstgeberhaftungsprivileg gem § 333 ASVG und widersprüchliches Verhalten als Rechtmissbrauch

Für den Haftungsausschluss nach § 333 Abs 1 ASVG kommt es nicht auf die konkrete Gestaltung eines Vertragsverhältnisses an; auch wenn einander zwei Betriebsunternehmer als Vertragskontrahenten gegenüberstehen, kann es daher zum Haftungsausschluss kommen, wenn der Verletzte die Sphäre seines eigenen Betriebs verlässt und sich in den Aufgabenbereich des anderen Unternehmens, wenn auch uU nur kurzfristig, einordnet; die einzelnen Tatbestandsmerkmale des Missbrauchstatbestands des widersprüchlichen Verhaltens (Schaffen eines Vertrauenstatbestands; Zurechnung zum Rechtsträger; Gutgläubigkeit und Schutzwürdigkeit des Gegners; Vertrauensdisposition) bilden ein bewegliches System, innerhalb dessen keines der Tatbestandselemente zur Gänze verzichtbar ist


Schlagworte: Schadenersatzrecht, Dienstgeberhaftungsprivileg, Rechtsmissbrauch, widersprüchliches Verhalten, Unternehmer
Gesetze:

§ 333 ASVG, § 1295 Abs 2 ABGB

GZ 2 Ob 214/11a, 25.10.2012

 

OGH: Gem § 333 Abs 1 ASVG ist der Dienstgeber dem Versicherten zum Ersatz des Schadens, der diesem durch eine Verletzung am Körper infolge eines Arbeitsunfalls entstanden ist, nur verpflichtet, wenn er den Unfall vorsätzlich verursacht hat. Das Haftungsprivileg ist gem § 333 Abs 3 ASVG nicht anzuwenden, wenn der Arbeitsunfall durch ein Verkehrsmittel eingetreten ist, für dessen Betrieb aufgrund gesetzlicher Vorschrift eine erhöhte Haftpflicht besteht. Die Ausnahmeregelung umfasst sämtliche durch eine Haftpflichtversicherung gedeckte Schäden und stellt ausschließlich auf die obligatorische Haftpflichtversicherung ab.

 

Das Berufungsgericht hat die Frage des Erfordernisses einer obligatorischen Haftpflichtversicherung für den am Unfall beteiligten Radlader nach den in der Entscheidung 2 Ob 316/97b dargelegten Kriterien geprüft und auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen („reines Baustellenfahrzeug“) sowie des unbestritten gebliebenen Tatsachenvorbringens der beklagten Parteien verneint. Da auch der Kläger die Ausnahmeregelung des § 333 Abs 3 ASVG in seiner Rekursbeantwortung für „prima facie nicht anwendbar“ hält, genügt der Hinweis auf die insoweit zutreffenden Ausführungen des Berufungsgerichts.

 

Auf die Haftungsbeschränkung des § 333 Abs 1 ASVG ist von Amts wegen nicht Bedacht zu nehmen. Dem Dienstgeber (zur Arbeitsgemeinschaft vgl RIS-Justiz RS0025976) steht jedoch das Recht zu, sich darauf zu berufen, wenn ihn der verletzte Versicherte nach einem Arbeitsunfall wegen des erlittenen Personenschadens in Anspruch nimmt. Die Auffassung des Berufungsgerichts, den beklagten Parteien sei im konkreten Fall die Berufung auf das Haftungsprivileg wegen ihres „widersprüchlichen Verhaltens“ verwehrt, enthält daher den Vorwurf des Rechtsmissbrauchs. § 1295 Abs 2 ABGB bietet eine im geltenden Recht verankerte Grundlage für ein allgemeines, über die Sanktion des Schadenersatzes hinausreichendes Rechtsmissbrauchsverbot.

 

Mit dem „widersprüchlichen Verhalten“ (venire contra factum proprium) als Anwendungsfall des Rechtsmissbrauchs hat sich in der Lehre Mader (Rechtsmissbrauch und unzulässige Rechtsausübung [1994]) eingehend befasst. In den Grundfällen geht es nach diesem Autor darum, dass der Berechtigte beim Verpflichteten durch sein Verhalten den Eindruck erweckt hat, ein ihm zustehendes Recht nicht (mehr) geltend zu machen, sodass im Hinblick darauf eine spätere Berufung auf das Recht als Verstoß gegen Treu und Glauben angesehen wird. In anderen Fällen erweckt der Berechtigte im Verpflichteten durch sein Verhalten Vertrauen auf das Bestehen einer bestimmten Sach- oder Rechtslage, weshalb die „Widersprüchlichkeit“ hier zwischen der objektiven Rechtslage und dem Verhalten des Berechtigten gesehen wird.

 

Mader gelangt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, dass „widersprüchliches Verhalten“ (nur) unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes die Rechtsfolge der Sittenwidrigkeit rechtfertigen könne. Die Ausübung eines subjektiven Rechts sei demnach sittenwidrig, wenn zurechenbar schutzwürdiges Vertrauen erzeugt worden sei, dass dieses Recht nicht bzw nicht mehr bestehe (oder von ihm in einem bestimmten Zeitraum kein Gebrauch gemacht werde) und der Verpflichtete sich darauf eingerichtet habe. Die einzelnen Tatbestandsmerkmale dieses Missbrauchstatbestands (Schaffen eines Vertrauenstatbestands; Zurechnung zum Rechtsträger; Gutgläubigkeit und Schutzwürdigkeit des Gegners; Vertrauensdisposition) bildeten ein bewegliches System, innerhalb dessen keines der Tatbestandselemente zur Gänze verzichtbar sei. Ein „reines Selbstwiderspruchsverbot“ ohne Bestehen einer Vertrauenssituation sei - entgegen der Rsp des BGH - hingegen abzulehnen.

 

In der Rsp des OGH wurde bisweilen das Verhalten eines Berechtigten als gegen das Verbot des „venire contra factum proprium“ verstoßend und deshalb als rechtsmissbräuchlich beurteilt. Auch in den vom Berufungsgericht zitierten arbeitsrechtlichen Entscheidungen (8 ObA 20/04f; 8 ObA 49/07z) wurde dieser Missbrauchstatbestand erörtert, letztlich aber nicht als verwirklicht angesehen.

 

In der Judikatur ist überdies anerkannt, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine die Beitragsaufbringung beeinträchtigende Vertragsgestaltung die Geltendmachung von Insolvenz-Entgelt sittenwidrig machen kann. In der vom Berufungsgericht ebenfalls zitierten Entscheidung 8 ObS 204/00h wurde die Geltendmachung von Insolvenzausfallgeld als sittenwidrig beurteilt, weil die dortige Klägerin, eine „atypische Verhandlungsposition“ ausnützend, die vertragliche Gestaltung ihres Arbeitsverhältnisses bewusst zu ihrem Vorteil beeinflusst und die Schädigung des (damaligen) Insolvenz-Ausfallgeldfonds zumindest in Kauf genommen hatte (ähnlich 8 ObS 2/11v: „Ausbeutung“ des Fonds).

 

Mit diesen Fällen ist die hier vorliegende Konstellation allerdings nicht vergleichbar:

 

Für den Haftungsausschluss nach § 333 Abs 1 ASVG kommt es nicht auf die konkrete Gestaltung eines Vertragsverhältnisses an. Es ist nicht einmal erforderlich, dass ein solches überhaupt besteht; entscheidend ist nur das Tätigwerden in der Sphäre des Unternehmers. Auch wenn einander zwei Betriebsunternehmer als Vertragskontrahenten gegenüberstehen, kann es daher zum Haftungsausschluss kommen, wenn der Verletzte die Sphäre seines eigenen Betriebs verlässt und sich in den Aufgabenbereich des anderen Unternehmens, wenn auch uU nur kurzfristig, einordnet. Der Verletzte muss bei Verrichtung dieser Tätigkeit in den fremden Betrieb eingegliedert sein; ein Verhältnis persönlicher oder wirtschaftlicher Abhängigkeit ist dabei nicht erforderlich. Wesentlich ist jedenfalls, dass die Tätigkeit ihrer Art nach einer abhängigen Beschäftigung entspricht und dass sie nicht zum eigenen betrieblichen Aufgabenbereich des Verletzten gehört.

 

Der Kläger verrichtete im Unfallszeitpunkt die ihm von einem Vorarbeiter der ARGE „angeschaffte“ Arbeit, nämlich das An- und Abhängen von Dübelpaketen an das bzw vom Gehänge des Radladers und die Platzierung dieser Pakete an vorbestimmten Stellen. Dabei handelte es sich um eine üblicherweise im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses anfallende Tätigkeit, somit eine ihrer Art nach abhängige Beschäftigung im zuvor erwähnten Sinn. Zu dieser gehörte auch die Mitfahrt des Klägers in dem vom Vorarbeiter gesteuerten Radlader, die letztlich zu dem Unfall führte. Dass der Kläger (auch) einen eigenen betrieblichen Aufgabenbereich abzudecken hatte, wurde in den Feststellungen des Erstgerichts verneint. Der Kläger war daher im Zeitpunkt des Unfalls unabhängig von der vertraglichen Gestaltung in den Betrieb der ARGE eingegliedert.

 

Vor dem Hintergrund der erörterten Sach- und Rechtslage, insbesondere der überzeugenden Ausführungen Maders, kann aber die Berufung auf das Haftungsprivileg des § 333 Abs 1 ASVG nicht als rechtsmissbräuchlich beurteilt werden. Selbst mit einem formell abgeschlossenen Werkvertrag wäre dem Kläger gegenüber kein Vertrauenstatbestand dahin geschaffen worden, dass sich die beklagten Parteien unter den oben genannten Voraussetzungen im Falle eines Arbeitsunfalls nicht auf das Haftungsprivileg des § 333 Abs 1 ASVG berufen würden. Abgesehen von der Frage der Gutgläubigkeit und der Schutzwürdigkeit des Klägers, die hier nicht weiter vertieft werden muss, liegt schon aus diesem Grund kein „widersprüchliches Verhalten“ zum Nachteil des Klägers vor. Der Vorwurf des Berufungsgerichts, die seinerzeitige Vertragsgestaltung stehe in „eklatantem Widerspruch“ zum nunmehrigen Prozessvorbringen der beklagten Parteien, mit welchem sie zur Abwendung einer sie sonst treffenden Haftung einzig den Vorteil des Haftungsprivilegs erreichen wollten, erweist sich als unbegründet.

 

Aus der - von Mader abgelehnten - Rsp in Deutschland, auf die sich der Kläger in seiner Rekursbeantwortung bezieht, wären für seinen Standpunkt keine günstigeren Erkenntnisse ableitbar. Danach könnte zwar auch ohne besonderen Vertrauenstatbestand „widersprüchliches Verhalten“ unzulässig sein, allerdings nur dann, wenn der Berechtigte aus seinem früheren Verhalten erhebliche Vorteile gezogen hat oder wenn sein Verhalten zu einem unlösbaren Selbstwiderspruch führt. Entgegen der Ansicht des Klägers liegen diese Kriterien hier nicht vor, weil es in Bezug auf das Haftungsprivileg schon an der Grundvoraussetzung des „widersprüchlichen Verhaltens“ fehlt. Einer näheren Auseinandersetzung mit der Rechtslage in Deutschland bedarf es daher nicht.

 

Das Argument der Umgehung zwingender arbeitsrechtlicher Vorschriften begründet keinen Widerspruch zur Inanspruchnahme des Haftungsprivilegs, setzt dieses doch nicht einmal ein (gültiges) Vertragsverhältnis voraus. Auch kommt es, wie das Berufungsgericht ohnedies richtig erkannte, für die Anwendung des Haftungsausschlusses nach § 333 Abs 1 ASVG nicht darauf an, ob der Verletzte zur Unfallversicherung angemeldet war, wozu die beklagten Parteien im vorliegenden Fall verpflichtet gewesen wären. Die Sozialversicherung ist eine ex-lege-Versicherung, deren Schutz auch eingreift, wenn der Dienstnehmer ohne Anmeldung beschäftigt wurde.