OGH: § 76 StVO und § 9 StVO iZm unachtsamem Betreten des Schutzweges
Vor allem bei widrigen Umständen, wie Dunkelheit und Regen, muss der Fußgänger vor der Überquerung eines Schutzwegs die Verkehrslage sorgfältig prüfen und im Zweifel eher ungünstig beurteilen; auch einem „bevorrechteten“ Fußgänger ist zuzumuten, nicht gleichsam „blind“ den Schutzweg zu betreten
§§ 1295 ff ABGB, § 9 StVO, § 76 StVO, § 1304 ABGB
GZ 2 Ob 63/11w, 14.07.2011
OGH: Gem § 76 Abs 4 lit a StVO dürfen Fußgänger an Stellen, wo der Verkehr weder durch Arm- noch durch Lichtzeichen geregelt ist, einen Schutzweg nicht unmittelbar vor einem herannahenden Fahrzeug und für dessen Lenker überraschend betreten.
„Überraschendes Betreten“ liegt dann vor, wenn andere Straßenbenützer den Umständen nach nicht damit rechnen konnten und nicht mehr in der Lage sind, ihr eigenes Verhalten danach einzurichten. Ist für einen aufmerksamen Lenker aufgrund des Verhaltens eines Fußgängers dessen Überquerungsabsicht schon vor dem Betreten der Fahrbahn „erkennbar“ iSd § 9 Abs 2 StVO, ist das Betreten selbst nicht mehr als „überraschend“ anzusehen.
„Unmittelbar vor“ einem herannahenden Fahrzeug wird ein Schutzweg dann betreten, wenn dies so knapp vor diesem Fahrzeug geschieht, dass dessen Lenker ein rechtzeitiges Anhalten nicht mehr möglich ist. Dies trifft jedenfalls dann zu, wenn der Fußgänger den Schutzweg innerhalb des Anhaltewegs betritt.
Die Beweislast für den von ihnen behaupteten Verstoß des Klägers gegen § 76 Abs 4 lit a StVO trifft die beklagten Parteien. Dabei ist von der für den Kläger günstigsten Sachverhaltsvariante auszugehen:
Nach den Feststellungen betrug die Untergrenze der möglichen Geschwindigkeiten des Beklagtenfahrzeugs 25 km/h. Als sich der Kläger an der Gehsteigkante befand (1,8 sek vor der Kollision), war das Beklagtenfahrzeug in dieser Version noch 12,5 m von der späteren Kollisionsstelle entfernt. Im Hinblick auf den Anhalteweg von 10 m wäre dem Erstbeklagten in dieser Situation nur noch bei sofortiger Vollbremsung rechtzeitiges Anhalten möglich gewesen. Ob ihm bei gehöriger Aufmerksamkeit die Überquerungsabsicht des Klägers schon vorher erkennbar sein konnte, als dieser sich dem Schutzweg annäherte, steht allerdings nicht fest. Unter diesen Umständen hat der Kläger den Schutzweg zwar „unmittelbar vor“ dem Beklagtenfahrzeug betreten. Den Beweis für das weitere Tatbestandselement, dass das Betreten auch „überraschend“ gewesen wäre, haben die beklagten Parteien hingegen nicht erbracht.
Mag dem Kläger somit auch kein Verstoß gegen § 76 Abs 4 lit a StVO vorzuwerfen sein, so ist er dennoch nicht von jedem Mitverschulden befreit.
Grundsätzlich darf der Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn auf einem Schutzweg darauf vertrauen, dass sich der Lenker eines herankommenden Fahrzeugs mit einer solchen Geschwindigkeit nähert, dass er das Kfz anhalten kann, um dem Fußgänger das ungehinderte und ungefährdete Überqueren der Fahrbahn zu ermöglichen. Vor allem bei widrigen Umständen, wie Dunkelheit und Regen, muss der Fußgänger aber auch vor der Überquerung eines Schutzwegs die Verkehrslage sorgfältig prüfen und im Zweifel eher ungünstig beurteilen. Auch einem „bevorrechteten“ Fußgänger ist zuzumuten, nicht gleichsam „blind“ den Schutzweg zu betreten.
Für den Kläger wäre das herannahende Beklagtenfahrzeug vor dem Betreten der Fahrbahn bei entsprechender Aufmerksamkeit jedenfalls bereits in bedrohlicher Nähe erkennbar gewesen. In Anbetracht der „denkbar schlechtesten“ Sichtverhältnisse, die er kurz zuvor noch selbst als Fahrzeuglenker - er kam gerade vom Parkplatz - zur Kenntnis nehmen hatte müssen, seiner dunklen Kleidung und der erkennbaren Nähe des Beklagtenfahrzeugs durfte er auf das Gelingen eines Bremsmanövers auf nasser Fahrbahn nicht ohne Weiteres vertrauen. Er hätte vielmehr die Verkehrslage in bedenklichem Sinn auslegen und von der Überquerung des Schutzwegs Abstand nehmen müssen. Ihm ist als Mitverschulden (iSe Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten) anzulasten, dass er den Schutzweg dennoch betreten hat.
Bei der Aufteilung des Verschuldens entscheiden va der Grad der Fahrlässigkeit des einzelnen Verkehrsteilnehmers, die Größe und Wahrscheinlichkeit der durch das schuldhafte Verhalten bewirkten Gefahr und die Wichtigkeit der verletzten Vorschriften für die Sicherheit des Verkehrs im Allgemeinen und im konkreten Fall. Bedenkt man, dass ein Fußgänger auf dem Schutzweg grundsätzlich unbedingten Vorrang genießt und der Erstbeklagte trotz besonders schlechter Sichtverhältnisse nicht einmal die ihm beim Lenken eines Kfz vorgeschriebene Korrekturbrille trug, so ist sein Fehlverhalten als schwerwiegend zu qualifizieren, der den Verschuldensanteil des Klägers zwar nicht zur Gänze zurücktreten lässt, aber doch eindeutig überwiegt. Dem ist durch eine Verschuldensteilung im Verhältnis 3 : 1 zu Lasten der beklagten Parteien Rechnung zu tragen.