OGH: Berufsunfähigkeitspension gem § 271 ASVG – Härtefallregelung bei Angestellten
Die Anwendbarkeit der Härtefallregelung hängt bei Angestellten davon ab, ob diesen Berufsschutz zukommt, oder nicht
§ 271 ASVG, § 273 ASVG, § 255 ASVG
GZ 10 ObS 71/12g, 05.06.2012
Die Revisionswerberin bringt vor, es sei unter dem Aspekt des Gleichheitsgrundsatzes verfassungswidrig, dass sie als Angestellte nicht in den Genuss der sog „Härtefallregelung“ (§ 255 Abs 3a und 3b ASVG) gelange, obwohl bei ihr der Berufsschutz nur „in sehr geringem Umfang greife“ und sie nur mehr auf „einfache“ Berufstätigkeiten (wie zB Informationstätigkeiten in Kaufhäusern und Tätigkeiten in einer Briefpoststelle bzw Poststelle) verweisbar sei.
OGH: Vorerst ist klarzustellen, dass die Klägerin Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG genießt und es sich bei den ihr als zumutbar erachteten Verweisungstätigkeiten um Angestelltentätigkeiten handelt. Genießt ein Angestellter Berufsschutz, ist nach stRsp eine Verweisung auf ungelernte Arbeitertätigkeiten - damit auch auf Tätigkeiten mit „geringstem Anforderungsprofil“ iSd § 255 Abs 3a Z 4 ASVG - unzulässig, weil der Versicherte nicht auf Tätigkeiten verwiesen werden darf, durch deren Ausübung der Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG verloren gehen würde.
Mit § 273 Abs 2 ASVG wurde die mit dem BudgetbegleitG 2011 geschaffene sog „Härtefallregelung“ (§ 255 Abs 3a und 3b ASVG) auch für Angestellte eingeführt. Nach der erklärten Absicht des Gesetzgebers handelt es sich bei der „Härtefallregelung“ um einen speziellen Verweisungsschutz für ungelernte ArbeitnehmerInnen. Dies zeigt sich darin, dass § 255 Abs 3a ASVG ua nur dann zur Anwendung kommt, wenn die versicherte Person nicht überwiegend in erlernten oder angelernten Berufen iSd § 255 Abs 1 und 2 ASVG tätig war und daher keinen Berufsschutz genießt. Die Frage einer „entsprechenden Geltung“ für Angestellte (§ 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2010/111 bzw Abs 3 idF BGBl I 2011/122) des § 255 Abs 3a und 3b ASVG kann sich also dann nicht stellen, wenn eine versicherte Person Berufsschutz genießt. Nur dann, wenn bei einem Angestellten die Voraussetzungen für den Berufsschutz nach § 273 Abs 1 ASVG nicht vorliegen (§ 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2011/122), kann auch bei Angestellten die Verweisungsbeschränkung des § 255 Abs 3a, 3b ASVG bedeutsam werden. Die Anwendbarkeit der Härtefallregelung hängt bei Angestellten demnach davon ab, ob diesen Berufsschutz zukommt, oder nicht.
Nach stRsp des VfGH ist im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz eine Differenzierung sachlich begründet, wenn sie nach objektiven Unterscheidungsmerkmalen (aus Unterschieden im Tatsächlichen) erfolgt. Wesentliche Unterschiede im Tatsachenbereich müssen zu entsprechenden unterschiedlichen Regelungen führen. Nur unterschiedliche Regelungen, die nicht in entsprechenden Unterschieden im Tatsächlichen eine Grundlage haben, sind gleichheitswidrig, wobei unter der Sachlichkeit einer Regelung nicht eine „Zweckmäßigkeit“ oder „Gerechtigkeit“ zu verstehen ist.
Der OGH hat bereits zu § 255 Abs 1 und 3 ASVG ausgesprochen, dass die Differenzierung nach der Art der ausgeübten Tätigkeit zwischen erlernten (angelernten) und ungelernten Berufen nach objektiven Unterscheidungsmerkmalen erfolgt und deshalb gegen die Verfassungsmäßigkeit der Differenzierung in den Anspruchsvoraussetzungen nach § 255 Abs 1 und Abs 3 ASVG keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen. Davon ausgehend bestehen unter dem Blickwinkel des Gleichheitsgrundsatzes auch keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, dass die Anwendbarkeit der „Härtefallregelung“ (§ 255 Abs 3a bzw 3b iVm § 273 Abs 2 ASVG idF BGBl I 2011/122) das Nichtvorliegen von Berufsschutz voraussetzt. Dem einfachen Gesetzgeber ist es nämlich durch den Gleichheitssatz nicht verwehrt, seine jeweiligen rechtspolitischen Vorstellungen im Rahmen vertretbarer Zielsetzungen auf die ihm geeignet erscheinende Art zu verwirklichen. Diese Zielsetzung ging bei Schaffung der „Härtefallregelung“ dahin, für stark leistungseingeschränkte ungelernte ArbeiterInnen und für bestimmte selbstständig Erwerbstätige, nämlich Bäuerinnen und Bauern, aber auch für stark leistungseingeschränkte Angestellte ohne Berufsschutz bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die weite Verweisung auf den gesamten Arbeitsmarkt zu einer Verweisung auf ein enges Segment einzuschränken und diesen Menschen einen Zugang zu einer Invaliditäts-, Erwerbsunfähigkeits- oder Berufsunfähigkeitspension zu eröffnen. Die in der jeweiligen Regelung zum Ausdruck kommende rechtspolitische Gestaltungsfreiheit unterliegt - außer bei einem Exzess - nicht der verfassungsrechtlichen Kontrolle; ist - wie hier - kein Exzess erkennbar, ist die Rechtskontrolle nicht zur Beurteilung der Rechtspolitik berufen.
Die von der Revisionswerberin geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken werden somit nicht geteilt.