OGH: Üble Nachrede nach § 111 StGB iZm „Public Figures“
Auch gegenüber Politikern sind Werturteile ohne hinreichendes Tatsachensubstrat oder Wertungsexzesse nicht vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt; damit eine beleidigende Äußerung gegenüber einem Politiker noch vom Recht auf freie Meinungsäußerung gedeckt sein kann, bedarf es des Konnexes zu einer politischen bzw im allgemeinen Interesse liegenden Debatte; eine bewusst ehrverletzende Äußerung, bei der nicht die Auseinandersetzung mit der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht, wird nicht geschützt
§ 111 StGB, Art 10 EMRK, § 1330 ABGB
GZ 15 Os 81/11t, 29.06.2011
OGH: Das Recht auf freie Meinungsäußerung des Art 10 EMRK wird vom EGMR als Grundpfeiler jeder demokratischen Gesellschaft angesehen und nicht nur auf Informationen und Ideen bezogen, die allgemein als zustimmend aufgenommen oder als unschädlich oder unwichtig angesehen werden, sondern auch auf solche, die den Staat oder irgendeinen Teil der Bevölkerung kränken, schockieren oder beunruhigen können. Insofern beinhaltet das Recht auf freie Meinungsäußerung auch das Recht auf verletzende und beleidigende Äußerungen, jedoch ist dieses nicht uferlos: Art 10 Abs 2 EMRK normiert - unter Hinweis auf die mit der Meinungsfreiheit einhergehenden Pflichten - die Schranken, innerhalb welcher ein Eingriff in dieses Recht möglich ist. Ein solcher ist gem Art 10 Abs 2 EMRK nur dann zulässig, wenn er gesetzlich vorgesehen ist, einem der im Katalog des Art 10 Abs 2 EMRK abschließend aufgezählten Ziele dient und verhältnismäßig, also zur Erreichung des Ziels in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist. Hinsichtlich der einzelnen Aspekte der Prüfung der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ stellt der EGMR darauf ab, ob der Eingriff einem „dringenden sozialen Bedürfnis“ entsprach, ob er „verhältnismäßig gegenüber dem verfolgten berechtigten Ziel war“ und „ob die Gründe, die von den innerstaatlichen Behörden zu seiner Rechtfertigung angegeben wurden, maßgeblich und ausreichend sind“.
Der Eingriff muss einem dringenden gesellschaftlichen Bedürfnis dienen, wobei den Mitgliedstaaten in diesem Punkt zwar ein bestimmter Beurteilungsspielraum zugestanden wird. Für Einschränkungen politischer Äußerungen oder Diskussionen in Angelegenheiten des öffentlichen Interesses billigt der EGMR den Vertragsstaaten jedoch nur einen sehr engen Beurteilungsspielraum zu.
Von entscheidender Bedeutung bei Beantwortung der Frage nach der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs ist die Einordnung der fraglichen Äußerung in die Kategorie der Tatsachenmitteilungen oder der Werturteile. Denn nach stRsp des EGMR bedürfen nur Tatsachenbehauptungen eines Wahrheitsbeweises, während Werturteile einem solchen Beweis nicht zugänglich sind.
Im Rahmen von Werturteilen sind provozierende, ja bisweilen verletzende Ausdrücke bis zu einem gewissen Grad hinzunehmen, wobei der EGMR differenziert, gegen wen sich die Äußerung richtet und wer deren Autor ist. So gilt ganz allgemein, dass die Grenzen akzeptabler Kritik an Politikern und anderen Personen des öffentlichen Lebens - sofern die Äußerung einen Bezug zu ihrer politischen Tätigkeit oder ihrem öffentlichen Wirken aufweist - weiter gezogen sind als bei Privatpersonen, begeben sie sich doch freiwillig aufgrund ihrer Berufswahl bzw Stellung in der Gesellschaft in eine exponierte Lage. Außerdem wäre es dem politischen Diskurs in einer demokratischen Gesellschaft abträglich, würde im Rahmen desselben eine, manchmal wohl überspitzte Diskussion durch die Rechtsordnung sogleich unterbunden werden. Nach der Rsp des EGMR genießen insbesondere Journalisten und auch Politiker im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit auch als mögliche Täter prinzipiell eine stärker ausgeprägte Meinungsäußerungsfreiheit.
Nach gesicherter Rsp des EGMR gewährt Art 10 EMRK dem kritischen Werturteil somit - zumal in der politischen Auseinandersetzung - eine sehr weitreichende verfassungsrechtliche Privilegierung, räumt aber keineswegs eine schrankenlose Meinungs- und Kritikfreiheit ein (vgl Art 10 Abs 2 erster Halbsatz EMRK). Denn auch gegenüber Politikern sind (Un-)Werturteile ohne (einzelfallbezogen) hinreichendes Tatsachensubstrat oder Wertungsexzesse vom Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit nicht gedeckt. Solcherart ist der Persönlichkeitsschutz von Politikern zwar insofern eingeschränkt, als die Grenzen der zulässigen Kritik bei ihnen weiter gezogen sind als bei Privatpersonen, die Grenze aber dort zu ziehen ist, wo unabhängig von der politischen Debatte ein persönlich unehrenhaftes Verhalten vorgeworfen wird und bei Abwägung der Interessen ein nicht mehr vertretbarer Wertungsexzess vorliegt.
In Fällen diffamierender Kritik bedarf es also des Vorliegens einer politischen oder zumindest einer im allgemeinen Interesse liegenden Debatte, damit eine - wenngleich beleidigende - Äußerung gegenüber einem Politiker noch von der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt sein kann; ist kein derartiger Konnex auszumachen, sondern bezieht sich die Äußerung nur auf die Privatsphäre des Politikers, so muss sich dieser auch nicht mehr gefallen lassen als jeder andere Bürger. Hinsichtlich des Kriteriums des Konnexes prüft der EGMR, ob es sich um ein Thema handelt, welches geeignet ist, bei einem größeren Teil der Bevölkerung Interesse hervorzurufen. Liegt nun eine Frage von öffentlichem Interesse vor, so ist bei politischen Äußerungen einschließlich von Kritik an Politikern nur ein sehr begrenzter Spielraum für Einschränkungen vorhanden. Dies gilt auch für polemische und provokative Formulierungen, insbesondere, wenn für sie Anlass vorhanden ist. Eine bewusst ehrverletzende Äußerung, bei welcher nicht die Auseinandersetzung mit der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht, wird durch die Meinungsfreiheit jedoch nicht geschützt und tritt hinter den Achtungsanspruch des Betroffenen zurück.
Nach dem sowohl im Ersturteil festgestellten als auch der Entscheidung des Berufungsgerichts zugrunde gelegten Bedeutungsinhalt wurde dem Privatankläger mit der inkriminierten Aussage vorgeworfen, Angehöriger einer (konkret im Mieten- und Wohnungsbereich tätigen) „hochkriminellen“ bzw „stark kriminell ausgeprägten Organisation“ zu sein, „die verbrecherische Methoden anwendet“. Fallbezogen beurteilte das Berufungsgericht die inkriminierte Äußerung (zugunsten des Angeklagten und im Übrigen - dem Antragsvorbringen zuwider - ausreichend erkennbar) als Werturteil.
Eine vom Antragsteller unter Berufung auf jüngere Judikate dagegen ins Treffen geführte Beweisregel, wonach bei der Feststellung des Bedeutungsinhalts jedenfalls von der für ihn (als Angeklagten) günstigsten denkmöglichen Auslegungsvariante auszugehen sei, ist dem Gesetz zwar fremd, sein Vorbringen hiezu zeigt jedoch der Sache nach zutreffend auf, dass die Feststellungen zum Bedeutungsinhalt der inkriminierten Äußerung erheblichen Bedenken gegen deren Richtigkeit begegnen. Die im Bereich der Mediengerichtsbarkeit aus einer an der EMRK orientierten, somit verfassungskonformen Interpretation innerstaatlicher Verfahrensbestimmungen abzuleitende Einschränkung des Beweiswürdigungsermessens hat zur Folge, dass eine aus Sicht des OGH nicht sachgerechte Lösung der Tatfrage durch die Tatrichter viel eher als erheblich bedenklich zu qualifizieren ist, sodass die Erheblichkeitsschwelle bei der Kontrolle medienrechtlicher Entscheidungen in tatsächlicher Hinsicht niedriger anzusetzen ist als in anderen Fällen.
Die Feststellung des Bedeutungsinhalts des Wortgefüges „Teil der roten Mietenmafia“ als Mitgliedschaft an einer „hochkriminellen“ bzw „stark kriminell ausgeprägten Organisation“, „die verbrecherische Methoden anwendet“, begegnet erheblichen Bedenken iSd dargestellten Prüfungsmaßstabs. Denn die Gerichte haben im vorliegenden Fall - worauf der Antragsteller im Ergebnis zutreffend hinweist - folgenden Aspekten nicht den gebotenen Stellenwert beigemessen:
Gegenstand der vom Angeklagten in seiner Eigenschaft als geschäftsführender Landesparteiobmann der Freiheitlichen in Kärnten abgehaltenen Pressekonferenz war laut aktenkonformen Urteilsannahmen die im Rahmen einer bereits zuvor eingeleiteten Kampagne, auf einen Prüfbericht des Österreichischen Verbandes gemeinnütziger Bauvereinigungen - Revisionsverband Wien für das Jahr 2005 gestützte Kritik an der Gebarung der Wohn- und Siedlungsgenossenschaft „H“ im Wesentlichen wegen einer überhöhten Abfertigung, einer (wenngleich vom Privatankläger nicht zu verantwortenden und überdies noch im Prüfungszeitraum korrigierten) „Bilanzmanipulation“, einer defizitären Tochtergesellschaft sowie wegen unwirtschaftlicher Grundstücksankäufe. Dies ungeachtet der in den Prüfberichten für die Jahre 2004 und 2005 enthaltenen Bestätigung, der Vorstand der Genossenschaft (dem auch der Privatankläger angehörte) wäre den ihm nach Gesetz, Gesellschaftsvertrag und Geschäftsanweisung obliegenden Verpflichtungen nachgekommen, die Wirtschaftlichkeit des Geschäftsbetriebs in den Bereichen der Bau- und der Verwaltungstätigkeit wäre gegeben und die Vermögens- und Kapitalslage zum 31. Dezember 2004 bzw 2005 wäre geordnet und gesichert gewesen. Nach den im Artikel in „O“ wiedergegebenen Äußerungen des Angeklagten spiele M eine Doppelrolle, weil er einerseits als Obmann und Vorstand der Genossenschaft auftrete und andererseits als Bürgermeister von V die erste Instanz in baubehördlichen Fragen sei. Somit erteile er sich selbst die Genehmigungen.
Außerdem verfasste das Büro des Landesrats für Wohnbau bereits am 9. Jänner 2007 eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft, wonach die „H“ erst am 3. Dezember 2003 unter Vorlage einer im Namen des Bürgermeisters ausgestellten Amtsbestätigung, Baubeginn sei der 10. Jänner 2004, bei der Abteilung Wohnbauförderung um grundsätzliche Förderungsbereitschaft einer Wohnhausanlage angesucht habe, obwohl mit dem Bau zu diesem Zeitpunkt bereits begonnen worden war. Medial habe der Privatankläger mehrfach zu Gunsten des in diesem Zusammenhang angeklagten und schließlich rechtskräftig wegen Urkundenfälschung verurteilten Vizebürgermeisters von V Stellung bezogen.
Auch angesichts der zuletzt angeführten, bereits vor der inkriminierten Äußerung in der Öffentlichkeit diskutierten Vorfälle (eine Bezugnahme darauf ist daher im Zusammenhang mit der in Rede stehenden Pressekonferenz nicht unbedingt erforderlich), bestand somit eine Tatsachengrundlage, die den Angeklagten als Politiker auch zu polemischer und provokativer Kritik an der Wohnbaugenossenschaft und dem Privatankläger als einem ihrer Vorstandsmitglieder, einer Funktion, die in engem Konnex mit seiner politischen Tätigkeit stand, berechtigte, und darüber hinaus geeignet war, das Interesse der Öffentlichkeit an Informationen rund um diese Bauvereinigung zu erregen.
Schließlich ist die politische Auseinandersetzung sehr häufig von Übertreibungen, Provokationen, Zuspitzungen und mehr oder minder gelungenen „Wortschöpfungen“ geprägt, ja sie bedient sich solcher bewusst, um die Bevölkerung für bestimmte Themen zu sensibilisieren. So gesehen legt die Verwendung des Ausdrucks „Mietenmafia“ schon angesichts der Kombination mit dem weiteren Begriff „rote“ als parteipolitische Zuordnung und der in der politischen Rhetorik durchaus gebräuchlichen Verwendung des Begriffs „Mafia“ für kritikwürdige Institutionen nahe, dass am Privatankläger iZm die Wohnbaugenossenschaft „H“ betreffenden aufklärungsbedürftigen Vorfällen wenngleich herbe, im Rahmen eines Werturteils aber noch zulässige politische Kritik geübt, ihm aber nicht die vorsätzliche Begehung von Verbrechen im Rahmen einer kriminellen Organisation vorgeworfen werden sollte.
In Stattgebung des Antrags auf Erneuerung waren die im Spruch bezeichneten Urteile daher aufzuheben. Im erneuerten Verfahren wird den angesprochenen Umständen das erforderliche Augenmerk zu widmen sein.