23.04.2012 Zivilrecht

OGH: Zur Frage, ob das gesetzliche Kündigungsrecht nach Eintritt des Versicherungsfalls gem § 96 oder § 158 VersVG auch auf die Rechtsschutzversicherung analog anzuwenden ist

Das versicherungsfallbedingte Kündigungsrecht gem § 96 Abs 1, § 113 und § 158 Abs 1 VersVG ist auf die Rechtsschutzversicherung nicht analog anzuwenden


Schlagworte: Versicherungsrecht, Rechtsschutzversicherung, kein versicherungsfallbedingtes Kündigungsrecht
Gesetze:

Art 15.3. der ARB 2002, § 96 VersVG, § 113 VersVG, § 158 VersVG

GZ 7 Ob 215/11k, 27.02.2012

 

Die klagende Unternehmerin (Versicherungsnehmerin) schloss am 24. 8. 2005 mit dem beklagten Versicherer einen auf zehn Jahre befristeten Rechtsschutzversicherungsvertrag ab, der nach Ablauf von fünf Jahren jährlich ohne Dauerrabattrückverrechnung kündbar ist. Ihm liegen die Allgemeinen Bedingungen für die Rechtsschutz-Versicherung (ARB 2002) zugrunde.

 

Art 15.3. der ARB 2002 lautet:

 

„Unter welchen Voraussetzungen verlängert sich der Versicherungsvertrag oder endet er vorzeitig?

 …

3. Im Zusammenhang mit dem Eintritt eines Versicherungsfalles kann der Versicherungsvertrag unter folgenden Voraussetzungen gekündigt werden:

 

3.1. Der Versicherungsnehmer kann kündigen, wenn der Versicherer

- die Bestätigung des Versicherungsschutzes (Artikel 9.1.) verzögert hat,

- die Ablehnung des Versicherungsschutzes (Artikel 9.1.) verspätet, ohne Begründung oder zu Unrecht ausgesprochen hat,

- die Ablehnung der Kostenübernahme gemäß Artikel 9.4. ohne Angabe von Gründen und/oder ohne Hinweis auf die Möglichkeit eines Schiedsgutachterverfahrens ausgesprochen hat.

 

Die Kündigung ist innerhalb eines Monats vorzunehmen

- nach Ablauf der Frist für die Bestätigung und/oder Ablehnung des Versicherungsschutzes (Artikel 9.1.),

- nach Zugang der unbegründeten oder ungerechtfertigten Ablehnung des Versicherungsschutzes bzw nach Zugang der Ablehnung der Kostenübernahme ohne Begründung und/oder Rechtsbelehrung,

- nach Rechtskraft des stattgebenden Urteiles im Falle einer Deckungsklage.

 

Die Kündigung kann mit sofortiger Wirkung oder zum Ende der laufenden Versicherungsperiode erfolgen.

 

Dem Versicherer gebührt die auf die abgelaufene Versicherungszeit entfallende anteilige Prämie. Der Versicherer verzichtet, die für die längere Vertragsdauer eingeräumten Prämiennachlässe (Dauerrabatt) nach zu verrechnen.

 

3.2. Der Versicherer kann zum Schutz der Versichertengemeinschaft vor überdurchschnittlicher oder ungerechtfertigter Inanspruchnahme der Versicherung kündigen, wenn

- er den Versicherungsschutz bestätigt oder eine Leistung erbracht hat,

- der Versicherungsnehmer einen Anspruch arglistig oder mutwillig erhoben hat,

- der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt hat.

 

Die Kündigung ist innerhalb eines Monats vorzunehmen

- nach Bestätigung des Versicherungsschutzes,

- nach Erbringung einer Versicherungsleistung,

- nach Kenntnis der Arglistigkeit, der Mutwilligkeit, des Vorsatzes oder der groben Fahrlässigkeit.

 

Die Kündigung kann grundsätzlich nur unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist erfolgen. Falls der Versicherungsnehmer einen Anspruch arglistig erhoben hat, kann der Versicherer mit sofortiger Wirkung kündigen.

 

Dem Versicherer gebührt die auf die abgelaufene Versicherungszeit entfallende anteilige Prämie. Der Versicherer verzichtet, die für die längere Vertragsdauer eingeräumten Prämiennachlässe (Dauerrabatt) nach zu verrechnen.“

 

OGH: Zutreffend haben die Vorinstanzen für die Rechtsschutzversicherung die analoge Anwendung der gesetzlich normierten Kündigungsmöglichkeiten im Schadensfall (§ 96 Abs 1, § 113 und § 158 Abs 1 VersVG) abgelehnt.

 

Nach der Rsp setzt ein Analogieschluss das Vorhandensein einer Gesetzeslücke, dh einer „planwidrigen“, nicht gewollten Unvollständigkeit voraus. Eine solche Lücke ist dort anzunehmen, wo das Gesetz gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie unvollständig und ergänzungsbedürftig ist, ohne dass eine Ergänzung einer vom Gesetz gewollten Beschränkung widerspricht. Eine echte Lücke liegt vor, wenn man von einem bestimmten Standpunkt aus die konkrete Regelung eines Sachverhalts erwartet, eine solche aber fehlt. Die bloße Meinung des Rechtsanwenders, eine Regelung sei wünschenswert, rechtfertigt die Annahme einer Gesetzeslücke noch nicht. Genauso bedeutet es noch keine durch Analogie zu schließende Gesetzeslücke, wenn der Gesetzgeber eine Regelung nicht vorgenommen hat, die ein Autor als wünschenswert empfindet. Den Gerichten kommt nämlich nicht die Aufgabe zu, im Wege einer allzu weitherzigen Interpretation rechtspolitische Aspekte zu berücksichtigen, die den Gesetzgeber bisher (bewusst oder unbewusst) nicht veranlasst haben, eine Gesetzesänderung vorzunehmen. Analogie ist daher ausgeschlossen, wenn ersichtlich ist, dass der Gesetzgeber die Rechtsfolge nur eintreten lassen will, wenn gerade die Voraussetzungen des geregelten Tatbestands erfüllt sind, also die Nichtregelung dem Plan des Gesetzes entspricht.

 

Die Rechtsschutzversicherung wurde zunächst durch BGBl Nr 1993/90 (in Umsetzung der Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie 87/344/EWG) und in weiterer Folge durch die VersVG-Novelle 1994, BGBl Nr 1994/509, im VersVG gesetzlich geregelt. Die ARB enthielten bereits damals (vgl Art 15.3.2. ARB 1994) und auch schon vorher (vgl Art 15.3. ARB 1988) ein Kündigungsrecht im Schadensfall. Der Gesetzgeber griff dieses weder als gesetzliche Regelung in den §§ 158j ff VersVG auf, noch gestaltete er das Kündigungsrecht paritätisch aus. Letzteres widerspricht dem Regelungskonzept des Gesetzgebers der VersVG-Novelle 1994, wie er es in der Sachversicherung in den §§ 96 und 108 Abs 1 VersVG sowie §§ 113 und 115a Abs 3 VersVG und in der Haftpflichtversicherung in den §§ 158 und 158a Abs 2 VersVG verwirklichte. Da die ARB schon vor den Gesetzesnovellen ein imparitätisches Kündigungsrecht zu Lasten des Versicherungsnehmers vorsahen (und noch immer vorsehen), hätten sie damit wohl eine korrigierende Reaktion des Gesetzgebers hervorrufen müssen, hätte er die diesbezüglichen Regelungen aus der Sach- und der Haftpflichtversicherung auch für die Rechtsschutzversicherung übernehmen wollen. Die Schadensfallkündigung in der Rechtsschutzversicherung ist aber weiterhin nur in den ARB und nicht (auch) im VersVG geregelt. Auch in den zahlreichen Novellen zum VersVG seit 1994 wurde kein solches Kündigungsrecht im Schadensfall geschaffen. Zwar besteht diesbezüglich ein rechtspolitischer Wunsch der Versicherungsmakler, den der Gesetzgeber aber nicht aufgegriffen hat. Schon daraus ergibt sich, dass mangels „planwidriger“ Gesetzeslücke eine analoge Anwendung des gesetzlich geregelten Kündigungsrechts im Schadensfall auf die Rechtsschutzversicherung nicht in Betracht kommt. Zudem ist auf die vom OLG Düsseldorf und Kriegner angeführten Unterschiede zwischen der Haftpflichtversicherung und der Rechtsschutzversicherung zu verweisen, die einer analogen Anwendung des § 158 Abs 1 VersVG in der Rechtsschutzversicherung entgegenstehen.

 

Unstrittig ist, dass die Klägerin ihre Kündigung nicht auf einen wichtigen Grund stützte und dass die Voraussetzungen der Kündigung nach Art 15.3.1. ARB 2002 nicht vorliegen. Die Klägerin beruft sich vielmehr nur darauf, dass Art 15.3.2. erster Fall ARB 2002 gegen den Grundsatz der paritätischen Kündigung verstoße und daher eine gröbliche Benachteiligung des Versicherungsnehmers iSd § 879 Abs 3 ABGB darstelle. Diese Klausel sei teleologisch dahin zu reduzieren, dass ihr ein Kündigungsrecht - ohne weitere Voraussetzungen - bereits dann zustehe, wenn der Versicherer den Versicherungsschutz bestätigt, „abgelehnt“ (ein solcher Fall ist hier nicht verwirklicht) oder eine Leistung erbracht habe. Dieser Auslegung ist nicht zu folgen.

 

Art 15.3.2. erster Fall ARB 2002 sieht ein Kündigungsrecht des Rechtsschutzversicherers „zum Schutz der Versichertengemeinschaft vor überdurchschnittlicher oder ungerechtfertigter Inanspruchnahme der Versicherung“ vor, wenn er den Versicherungsschutz bestätigt oder eine Leistung erbracht hat. Eine solche Kündigungsmöglichkeit besteht für den Versicherungsnehmer nicht.

 

Ob diese Klausel unter der Prämisse des Erfordernisses der „paritätischen Kündigungsmöglichkeit“ der Inhaltskontrolle iSd § 879 Abs 3 ABGB standhält, braucht hier nicht beurteilt zu werden. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausführte, würde ein Verstoß gegen § 879 Abs 3 ABGB zur Nichtigkeit des Art 15.3.2. erster Fall ARB 2002, nicht aber zur Begründung eines (weder vertraglich noch gesetzlich vorgesehenen) Kündigungsrechts des Versicherungsnehmers führen. Konsequenz wäre, dass sich der Rechtsschutzversicherer infolge Verstoßes gegen § 879 Abs 3 ABGB nicht auf dieses Kündigungsrecht berufen könnte. Zwar liegt hier kein Verbrauchergeschäft vor, jedoch scheidet eine sog geltungserhaltende Reduktion aus. Bei der geltungserhaltenden Reduktion bleibt die Vertragsklausel insoweit aufrecht, als sie inhaltlich nicht zu beanstanden und ein entsprechender hypothetischer Parteiwille erkennbar ist. Die Ausdehnung der Kündigungsmöglichkeit des Rechtsschutzversicherers gem Art 15.3.2. erster Fall ARB 2002 auf den Versicherungsnehmer wäre keine „Reduktion“, sondern eine Erweiterung dessen Kündigungsrechts. Der hypothetische Parteiwille der Vertragsparteien kann wohl nicht darauf gerichtet sein, dass der Klägerin ein Kündigungsrecht bei „überdurchschnittlicher oder ungerechtfertigter Inanspruchnahme“ der Rechtsschutzversicherung eingeräumt werden sollte, wenn noch dazu die Beklagte den Versicherungsschutz bestätigt oder eine Leistung erbracht hat. Für einen hypothetischen Parteiwillen, dass das Kündigungsrecht der Klägerin geltungserhaltend auf den Fall auszudehnen sei, dass die Beklagte (bloß) den Versicherungsschutz bestätigt oder eine Leistung erbracht hat - wie dies die Klägerin anstrebt -, finden sich überhaupt keine Anhaltspunkte. Solche vermag die Klägerin auch nicht aufzuzeigen.