OGH: Ist eine gerichtliche Nutzwertfestsetzung iSd § 9 Abs 2 WEG 2002 auch dann zulässig, wenn ein Nutzwertgutachten von einem Miteigentümer eingeholt wurde und ein anderer Miteigentümer nicht bereit ist, das Nutzwertgutachten der Wohnungseigentumsbegründung zugrunde zu legen?
§ 9 Abs 2 WEG 2002 enthält lediglich eine demonstrative Aufzählung jener Fälle, die die Möglichkeit einer gerichtlichen Nutzwertfestsetzung eröffnen; dabei handelt es sich allerdings um sachlich genau umrissene Fälle, in denen schwere Fehler des privaten Nutzwertgutachtens oder wesentliche Änderungen der Verhältnisse vorliegen, die massive Defizite der vorhandenen Nutzwertfestsetzung nahe legen; dem kann der Fall, in dem (lediglich) ein Miteigentümer subjektive und von ihm nicht weiter objektivierte Bedenken gegen das vorliegende Nutzwertgutachten geltend macht, nicht gleichgehalten werden
§ 9 WEG 2002
GZ 5 Ob 193/11k, 14.02.2012
OGH: Die Regelungen des § 3 WEG 1975 wurden mit § 9 WEG 2002 weitestgehend übernommen und damit blieb es auch bei der grundsätzlichen Trennung zwischen „privater“ und „behördlicher“ Nutzwertfestsetzung. Nach § 9 Abs 1 WEG 2002 sind ebenfalls die Nutzwerte durch das Gutachten eines für den Hochbau zuständigen Ziviltechnikers oder eines allgemein beeideten und gerichtlich zertifizierten Sachverständigen für das Hochbau- oder das Immobilienwesen zu ermitteln. Gem § 9 Abs 2 WEG 2002 sind die Nutzwerte auf Antrag vom Gericht insbesondere dann abweichend vom Nutzwertgutachten (Abs 1) festzusetzen, wenn (Z 1) das Gutachten gegen zwingende Grundsätze der Nutzwertberechnung verstößt, (Z 2) das Gutachten bei einem Wohnungseigentumsobjekt um mehr als 3 vH von den tatsächlichen Gegebenheiten abweicht, (Z 3) sich der Nutzwert eines Wohnungseigentumsobjekts durch eine gegenüber den Grundlagen der Nutzwertermittlung abweichende Bauführung um mehr als 3 vH ändert, (Z 4) sich der Nutzwert eines Wohnungseigentumsobjekts nach Vollendung der Bauführung durch bauliche Vorgänge auf der Liegenschaft wesentlich ändert oder (Z 5) sich die Nutzwerte durch Änderungen im Bestand räumlich unmittelbar aneinandergrenzender Wohnungseigentumsobjekte oder durch die Übertragung von Zubehörobjekten iSd § 2 Abs 3 WEG 2002 ändern.
Zu § 9 WEG 2002 vertritt Würth, die Auffassung dass Abs 2 leg cit die Nutzwertfestsetzung durch das Gericht (die Schlichtungsstelle gem § 52 Abs 3 WEG 2002) nur mehr als Abänderung eines bereits vorliegenden Nutzwertgutachtens oder einer früheren Entscheidung des Gerichts/der Schlichtungsstelle vorsehe.
T. Hausmann vertritt die Meinung, dass nach dem (in der Entlastung der Behörden zu erblickenden) Zweck der mit dem BTVG 1997 erfolgten Privatisierung der Nutzwertberechnung eine Überprüfung eines privaten Gutachtens durch das Gericht bzw die Schlichtungsstelle - ehe dieses Grundlage einer Einverleibung im Grundbuch wurde - nicht in Frage kommen sollte. Er kritisiert dabei die in 5 Ob 144/03t vertretene Ansicht, wonach eine gerichtliche Nutzwert-(neu-)festsetzung wegen der „möglichst uneingeschränkten Überprüfbarkeit der Nutzwertgutachten“ schon vor Einverleibung des Wohnungseigentums im Grundbuch begehrt werden könne.
In besagter Entscheidung 5 Ob 144/03t wollte der Antragsteller gerichtlich klären lassen, was rechtens sei, wenn zwei einander widersprechende Nutzwertgutachten vorliegen. Der erkennende Senat hat damals das Begehren des Antragstellers nicht dahin verstanden, dass dieser die gerichtliche Bestätigung der Nutzwertberechnung „seines“ Sachverständigen, sondern die Änderung einer vorliegenden privaten Nutzwertberechnung, nämlich jener des Antragsgegners, gestützt auf § 9 Abs 2 Z 1 WEG 2002, begehrte; unter diesen Umständen wurde in 5 Ob 144/03t die Möglichkeit der gerichtlichen Nutzwertfestsetzung bejaht.
In 5 Ob 16/06y hat der OGH allerdings betont, dass § 9 Abs 1 WEG 2002 die (erstmalige) Ermittlung der Nutzwerte ausschließlich durch Gutachten eines privaten Sachverständigen vorsehe und damit ebenso wie die Vorgängerbestimmung des § 3 Abs 1 WEG 1975 eine Alternative zur Anrufung des Gerichts/der Schlichtungsstelle bei erstmaliger Festsetzung der Nutzwerte ausschließe. § 9 Abs 2 WEG 2002 behandle die Neufestsetzung der Nutzwerte durch das Gericht/die Schlichtungsstelle nach erfolgter erstmaliger Wohnungseigentumsbegründung aufgrund eines privaten Gutachtens.
Ein Fall, welcher mit dem in 5 Ob 144/03t behandelten Sachverhalt vergleichbar wäre, liegt hier jedenfalls nicht vor:
Hier existiert (nur) ein Nutzwertgutachten, von dem (gerade) die Antragsteller behaupten, dass es den gesetzlichen Anforderungen entspreche, welches aber der Antragsgegner nicht anerkennen wolle, weil er (subjektiv) dessen Richtigkeit bezweifle und überdies nutzwertfremde Aspekte („Trittschallproblematik“) geregelt haben wolle. Nun trifft es zweifellos zu, dass § 9 Abs 2 WEG 2002 lediglich eine demonstrative Aufzählung jener Fälle enthält, die die Möglichkeit einer gerichtlichen Nutzwertfestsetzung eröffnen. Dabei handelt es sich allerdings um sachlich genau umrissene Fälle, in denen schwere Fehler des privaten Nutzwertgutachtens oder wesentliche Änderungen der Verhältnisse vorliegen, die massive Defizite der vorhandenen Nutzwertfestsetzung nahelegen. Dem kann der vorliegende Fall, in dem (lediglich) ein Miteigentümer subjektive und von ihm nicht weiter objektivierte Bedenken gegen das vorliegende Nutzwertgutachten geltend macht, nicht gleichgehalten werden. Wollte man bereits in derartigen Fällen die gerichtliche Überprüfung eines eingeholten Nutzwertgutachtens über Antrag des Auftraggebers des Gutachtens eröffnen, dann wäre die vom Gesetzgeber angestrebte „Privatisierung“ der Nutzwertfestsetzung kaum mehr zu verwirklichen und die Möglichkeit der gerichtlichen Nutzwertfestsetzung ohne spezifische sachliche Voraussetzungen praktisch schrankenlos eröffnet. Ein solches Regelungsverständnis würde zunächst dem Zweck der mit dem BTVG 1997 beabsichtigten Privatisierung der Nutzwertberechnung widersprechen. Überdies würden sich die in § 9 Abs 2 WEG 2002 detailliert geregelten Voraussetzungen der gerichtlichen Nutzwertfestsetzung erübrigen, wenn dafür bereits der Überprüfungswunsch des Auftraggebers des privaten Gutachtens ausreichte.
Voraussetzung für die Einverleibung des Wohnungseigentums ist im gegebenen Zusammenhang der Abschluss eines Wohnungseigentumsvertrags und die Nutzwertermittlung durch ein Gutachten iSd § 9 Abs 1 WEG 2002. Die Nutzwertermittlung nach § 9 Abs 1 WEG 2002 liegt hier vor. Der Abschluss des Wohnungseigentumsvertrags wird im Fall ungerechtfertigter Weigerung des Antragsgegners im Streitverfahren erzwungen werden müssen.